„Wir sind zum Humanismus verurteilt“

Ein Autorengespräch mit dem München-Schwabinger Schriftsteller, Journalist, Wissenschaftsautor PJ Blumenthal, gebürtig und aufgewachsen in der New Yorker Bronx, über sein soeben erschienenes Werk „Kaspar Hausers Geschwister. Auf der Suche nach dem wilden Menschen“ – Ergebnis von 40 Jahren Recherche.

Wissenschaftsautor und Kaspar-Hauser-Forscher PJ Blumenthal (l.) im Interview über Mythos und Realität von Wolfskindern (c) Goede

Ende Legende: Seit der Aufklärung und Jean-Jacques Rousseaus Forderung „Zurück zur Natur“ glauben bis heute viele Menschen, dass die Rückkehr in den Naturzustand die Lösung für viele Probleme mit der menschlichen Zivilisation sei. Testobjekte für diese These sind vielfach sogenannte Wolfskinder gewesen, also Menschen, die von Tieren aufgezogen worden waren oder die ohne menschliche Hilfe alleine in der wilden Natur aufwuchsen. Um diese herum ranken sich viele Erzählungen und Mythen, die wissenschaftlich oft nicht hinterfragt worden sind. Der Autor hat sich in jahrzehntelanger Arbeit und Recherchen rund um die Welt dieses Themas angenommen, dabei rund 120 Fälle gesichtet und kritisch durchleuchtet. Dabei sind im Laufe der Zeit drei wissenschaftliche Werke entstanden. Mit dem letzten nun, einer Gesamtbilanz und sozusagen Standardwerk, schließt Blumenthal seine Beschäftigung mit dem Thema ab und kommt zu dem Schluss: „Alle meine Untersuchungen und nachweisbare Fakten zu dem Thema erschüttern den Glauben, dass der Naturzustand für den Menschen gut sein könnte.“ Also, die Messe ist gelesen, hier Kernauszüge aus dem mehrstündigen Gespräch:

PJ, was sind die historischen Wurzeln dieses Themas, was ist der Reiz daran?

Die Wolfskinder begegnen uns in vielen Varianten, in der Mythologie und Märchen, in der Allegorie, Metaphorik und Symbolik, gerade auch in der Religion. Sie versinnbildlichen eine Sehnsucht nach einem unschuldigen Urzustand des Menschseins. Wolfskinder stehen, wenn man so will, für Adam und Eva und das irdische Paradies.

Was hat dich bei und zu diesen Untersuchungen getrieben?

1978 war ich auf einem Wiener Flohmarkt auf das Buch „Die wilden Kinder“ von Lucien Malson gestoßen. Das fand ich faszinierend, tauchte in das Thema ein, später habe ich in populärwissenschaftlichen Magazinen und anderen Medien jeweils die neuesten Erkenntnisse zusammengetragen, kurzum, das Thema wurde zu einem Fass ohne Boden für mich.

Wie würdest du die knapp 450 Seiten von „Kaspar Hausers Geschwistern“ resümieren?

Wir haben keine Heimat in der Tierwelt. Für Wölfe ist der Säugling nur eine Mahlzeit. Und die Kinder, die wild in der Natur aufgewachsen sind, blieben Seelenruinen, fürs ganze Leben. Aus Tieren wird nie ein Mensch, gleichwohl aus verwahrlosten Menschen leichter ein Tier. Menschen können leicht vertieren, wie das Beispiel des Kindes zeigt, das mit Schimpansen aufwuchs und statt zu sprechen grunzte. Ein Mann, der zwölf Jahre lang mit Ziegen lebte, war nicht mehr in die menschliche Gesellschaft zu integrieren.

Nach nunmehr 40 Jahren, zu welcher persönlichen Erkenntnis verdichten sich deine Kaspar-Studien?

Wir sind eine Schöpfung, die sich Ewigkeiten vom Tier unterscheidet. Das ermöglicht mir, viel klarer darüber nachzudenken, was der Mensch ist. Was uns dazu macht, das ist die Sprache. Sie ermöglicht uns, über die Vergangenheit und Zukunft nachzudenken, auch in der notwendigen Logik, die wir ebenfalls der Sprache verdanken.

Das alles in einer Twitternachricht?

Wir sind zum Humanismus verurteilt. Ohne einander können wir nicht auskommen. Miteinander vielleicht auch nicht—aber das ist ein anderes Thema.

P.J. Blumenthal
Kaspar Hausers Geschwister. Auf der Suche nach dem wilden Menschen
2018, erweiterte Neuausgabe
Mit einem Geleitwort von Elfriede Jelinek und einer Widmung für „die wilde Liane“
Franz Steiner Verlag
ISBN: 978-3-515-11646-6
€ 24,-
http://www.steiner-verlag.de/reihe/view/titel/61426.html (Archivversion auf webarchiv.org)

Ein weiterer Schwerpunkt des studierten Altphilologen und Wahlmünchners aus der Bronx ist der Themenkanon rund um die Sprache. Siehe dazu auch PJ’s Sprachkolumne, in der er sich einmal wöchentlich an den nie versiegenden Erkenntnissen über die deutsche Sprache und ihren unverhofften Fallstricken abarbeitet, humorvoll, selbstironisch und mit vielen Aha-Erlebnissen für Muttersprachler: http://sprachbloggeur.de/

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