Das Fahrrad wird 200 Jahre alt. Das Deutsche Museum widmet dem Stahlross eine Sonderausstellung. „Balanceakte“ zeigt die wechselvolle Geschichte des muskelgetriebenen Fahrzeugs, heute beliebter denn je, im Zenit seines Erfolgs. Wohin geht die Reise?
Zuerst geht man durch ein Spalier von Oldtimern, legendären Goggos und Isettas, den treuen Begleitern des deutschen Wirtschaftswunders, dann taucht eine liebevoll nachgebildete alte Fahrradwerkstatt auf, ölig verschmiert mit herumliegenden Schrauben und Werkzeugen, beleuchtet von einer einzigen Glühlampe.
Ohne Klimakatastrophe kein Fahrrad?
Ja, das waren die guten alten Zeiten, Technikromantik pur, als man noch an Fahrrädern wie auch Autos schraubte, auf den Schienen fauchende Dampfrösser verkehrten, die Mechanik selbst bei Flugzeugen noch übersichtlich war.
Balanceakte, im automobilen und eisenbahntechnischen Umfeld, rückt uns ins Bewusstsein: Wie der Mensch Jahrtausende lang vom Pferd als Fortbewegungsmittel abhängig gewesen war. Wie das erste Fahrrad, das Laufrad des Freiherrn von Drais, dem Tier nachgebaut, ein hölzernes Pferdeskelett auf Rädern war, bei dem sich der Reiter durch Abstoßen mit seinen Füßen am Boden fortbewegte.
Das war 1817, zwei Jahre nach dem Ausbruch des Tambora-Vulkans in Indonesien, der so viel Staub in die Atmosphäre geschleudert hatte, dass 1816 der Sommer in Europa und in den USA ausgeblieben war, mit verheerenden Ernteausfällen. Das führte dazu, dass viele Pferde geschlachtet werden mussten, damit die Menschen nicht verhungerten, sodass ein neues Fortbewegungsmittel her musste – so eine nicht unumstrittene These des Physikers und Fahrradexperten Hans-Erhard Lessing, die die Ausstellung gerne aufgegriffen hat.
Per Hochrad um die Erde
Außerdem argumentiert Lessing, dass das Fahrrad dem Automobil den Weg bereitet hätte. Chapeau! – aber auch darüber ließe sich trefflichst streiten. Fakt ist, dass auch beim Vierrad erneut der Pferdetransport Modell stand, die ersten Automobile eins zu eins einer Pferdekutsche nachgebildet waren, denen ein Kolbenmotor eingebaut worden war. Das Pferd, das Vorbild der technischen Mobilität, mit den bis heute gebräuchlichen Pferdestärken –dann aber gingen die mechanischen Nachbildungen schnell eigene Wege.
Drais Laufrad, mit der heute wieder beliebten Tretrollertechnik, konnte nicht so richtig befriedigen, vor allem war es im Vergleich zum temperamentvollen Ausritt hoch zu Pferde zu langsam. So entstand der Fahrrad-Dinosaurier, das Hochrad. Es hatte ein großes Vorderrad mit einem Tretkurbelantrieb. Das sorgte für höheres Tempo, infolge der hohen Fallhöhe auch für akute Unfallgefahren.
Kaum vorstellbar, dass jemand darauf in den 1880er Jahren die Reise rund um die Welt angetreten war, worauf eine Tafel der Ausstellung aufmerksam macht. Der Mann hatte nur ein Paar Socken, ein Hemd, einen Regenschutz, der gleichzeitig als Zelt diente, und eine Wolldecke dabei – wo hätte er auch mehr Gepäck hintun sollen?
Torpedo Dreigang – asbachuralt
Dann erst erfolgte der große Durchbruch. Aus England kam der Rover, das Niedrigfahrrad, auf den Kontinent, mit Luftbereifung. Dieser technische Stand ist uns im Wesentlichen bis heute erhalten geblieben ist. Für den Antrieb sorgten zwei Zahnkränze und eine Kette.
Die Hinterradnabe war noch ein Freilauf, die später mit einer darin eingebauten Backenbremse ausgestattet wurde, nach dem Zweiten Weltkrieg mit der beliebten Torpedo Dreigangschaltung. Trophäen der Technik – aus heutiger Sicht asbachuralt, etwa im Vergleich mit der 14-Gang Rohloff Nabenschaltung, ein Wunder deutscher Feinmechanik.
Um die Jahrhundertwende erreichte das Fahrradfahren einen ersten Höhepunkt, vorerst im Einsatz für die Freizeit. In München und Bayern erinnert die beliebte Radler-Maß daran. Auf das Fahrrad schwangen sich immer mehr Frauen, wie beeindruckende Ausstellungsfotos zeigen: weibliche Emanzipation auf zwei Rädern! Da brauchte es nicht lange, bis die Roten Radler das populäre Vehikel als Manifest für ihre politischen Botschaften entdeckten.
Fahrradtechnische Explosion durch MTBs
Ein Fahrrad war eine teure Anschaffung und verschlang lange Zeit einen vollen Monatslohn. Nichtsdestoweniger setzte es sich in den Städten als individuelles Fortbewegungsmittel durch. Ein Foto vom Münchner Karlsplatz/Stachus zwischen den Weltkriegen zeigt ganze Trauben von Fahrradfahrern, in einer Stadtlandschaft, in der Autos noch relativ selten waren.
Das hatte sich drei Jahrzehnte später ins Gegenteil gedreht. Alles voller Autos – und kaum mehr Räder, bis das wachsende Ökologiebewusstsein, auch mit Radel-Demos erzwungen, das Velo wieder zurück auf die Straßen brachte – und wie!
Ein wichtiger Motor für dieses Comeback waren Mountainbikes MTBs, komfortabel gefederte Räder, mit wenig Gewicht, Hochleistungsschaltungen und -bremsen, nicht nur wichtig im Gelände, sondern bei wachsenden Fahrgeschwindigkeiten auch in der Stadt und bei den beliebter werdenden Radwanderungen. MTBs lösten eine moderne fahrradtechnische Explosion aus, mit einem steilen Sprung nach oben auf der Beliebtheitsskala.
E-Bikes, ein Segen?
Und heute? Nach ersten schüchternen Vorstößen, bereits in den 1970-er Jahren, scheint die Zukunft heute dem E-Bike zu gehören. Unaufhaltsam – jedes Jahr tauchen davon mehr im Straßenbild auf, oft sind sie mit viel zu viel Tempo unterwegs. Woher kommt eigentlich die Energie für die Akkus, sind Motoren nicht eine sportliche Entwertung? Ist dieser Trend wirklich ein Segen?
Zum kaum mehr überschaubaren E-Bike-Angebot kommt die zunehmende Vielfalt anderer Räder, dänischer Lastenräder, die sich auch für den Kindertransport nutzen lassen, Dreiräder und Tieflieger oder Sesselräder (siehe ganz unten), auch Klappräder erleben eine Renaissance, die sich bequem in öffentliche Verkehrsmittel mitnehmen lassen. Fahrrad-Hightech, wo man hinschaut, mit herkömmlichem Werkzeug kaum mehr zu warten. Wem gelingt es, eine hydraulische Bremse fachgerecht zu entlüften, ohne sich einen Youtube Crashkurs hineinziehen zu müssen?
Beim Rundgang durch „Balanceakte“ würde man sich noch mehr Modelle wünschen, die die wachsende Typenvielfalt abbilden. Waren Drahtesel und Stahlross für unsere Großeltern eine Lebensanschaffung, sind sie heute ein Konsumgut, immer rascher wechselnden Moden und Trends unterworfen. Früher war Recycling angesagt, bis zum letzten Schräubchen, was passiert heute mit dem Fahrradschrott? Gleichwohl bemüht sich die Ausstellung, die gesellschafts- und verkehrspolitische Bedeutung von Rädern auf Tafeln und Bildern zu erklären.
Prostata schonen!
Darauf lässt sich verfolgen, wie Städte sich immer mehr dem Fahrradverkehr öffnen, Straßen und Autofahrer zunehmend mehr Platz den Fahrradfahrern abtreten müssen, denen breite Wege eingeräumt werden, sodass Automobilisten nur noch eine Fahrspur zur Verfügung steht – sehr zu deren und der Lobbys Groll.
Weder Drais noch der Erfinder des Verbrennungsmotors, Daimler, hätten je den Erfolg ihrer Erfindungen, ihren heutigen Konflikt und Verdrängungswettbewerb vorhergesehen. Was den Blick nach vorne öffnet.
Was hält die Zukunft muskelbetriebener Vehikel bereit? Eine endgültige Loslösung von Pferd und Kette? Andere Antriebe, etwa mit beweglichen Lenkern und Sättel für den Antrieb, haben sich trotz vieler Anläufe bisher nicht durchgesetzt. Auch ein praktischer Regenschutz harrt der gelingenden Umsetzung. Lebte heute ein Jules Verne, der hundert Jahre vor dem Mondflug bereits sehr realistisch das Weltraumabenteuer der Menschheit in seiner Sciencefiction visualisierte, der außerdem sogar Skype und Drohnen vorhersah, wo sähe ein solcher Visionär das Fahrrad in hundert Jahren?
Das TELI Vorstandsmitglied Wolfgang Goede zelebriert den 200. Geburtstags des Fahrrads auf seine Weise: Er fährt nunmehr, nach 56 Jahren auf dem alten Rovermodell, in vielen Variationen besessen, ein dreirädriges Liegerad, ein Trike, das ihn superbequem durch München rollen lässt – außerdem Prostata-schonend. Der Einfluss des Sattels auf die Gesundheit des Männerorgans ist bisher wenig erforscht. Die gute Nachricht: Vorsorge und Prophylaxe ermöglichen spezielle Gesundheitssättel.
Deutsches Museum, München, Verkehrszentrum am Bavariaring:
Balanceakte – 200 Jahre Radfahren
Auf und Ab der Abenteuermaschine
Bis Juli 2018, Sonderausstellungsfläche Halle I
Katalog 15 Euro (statt regulär 20 Euro im Handel)