Das Jahr geht zu Ende. Wieder mit einer Flut neuer Bücher. Was lohnt sich zu lesen? Während der Feiertage, zum Verschenken, für den Smalltalk? Der TELI-Rezensent hat sich einiger Werke angenommen. Wissenschaft und Technologie, Umwelt und Psychologie – und der Umgang damit in der Gesellschaft:
- Bude/Angstgesellschaft;
- Münch/Wunderwaffen;
- Science Busters/Asteroiden;
- oekom/FAIRreisen;
- Lesch/Gravitationswellen;
- Weitze/Chemie zwischen Faszinosum und Teufel;
- Freistetter/A….loch Newton;
- Schöttke/Superbias.
Angstgesellschaft – oder Mut zum Sein
Ein soziologischer und philosophischer Ratgeber in schwierigen Zeiten, die unsere Gesellschaft und Lebensweise in Frage stellen.
Wir leben in einem Klima gesellschaftlicher Angst. Terrorismus und Rechtsradikalismus, Flüchtlingswellen und Klimaveränderung, Erosion des Sozialstaats mit Jobunsicherheit und ungewisser Altersversorgung. Und oben drauf den Verlust sozialer Bindung in Familien und Partnerschaften: Wer zu Ängsten und Panik, Melancholie und Depressionen neigt, findet heutzutage leicht Gründe, sich in diese weiter hineinzustürzen.
Ängste – universal und einigend
Dieses Thema rollt der renommierte Soziologe Heinz Bude aus historischer und philosophischer Perspektive auf, sehr ansprechend im Stil. Tröstlich für uns alle: Angst ist universal, über alle Grenzen und Kulturen hinweg, und zwar schon immer auch – eine die Menschheit einigende Kraft.
Wenn Bude durch die Angstformen der modernen Gesellschaft und deren Zunahme führt, erlebt der Leser viele Aha-Erlebnisse. Gleichwohl ihn die Analyse wieder erdet: Viele Ängste sind unnötig, werden künstlich hochgeputscht, sind Luxusängste.
Ängste – zum Weglachen
Ebenso vielfältig wie die Ängste auf der Welt sind die Bewältigungsstrategien: Während der mittelalterliche Europäer im Karneval angsteinflößenden Kräften wie Papst und Kaiser, allgegenwärtigen Hungerskatastrophen, Seuchen und Kriegen keck die Zunge herausstreckte und Ängste weglachte, erfand der Asiate den Buddhismus mit der meditativen Angstlösung im Hier und Jetzt. Beide Modelle leben fort, ganz profan, im Yoga und im Kabarett. Aber sind sie nur eine Flucht?
Der Autor rät mit Paul Tillich, einem vor Hitler in die USA geflohenen protestantischen Theologen, zum „Mut zum Sein“: Er beinhaltet Ängste und Verzweiflung, Tod und Wiederanfänge, kurz: „zitternd und zögernd, zugleich die Hoffnung, dass nichts so bleiben muss, wie es ist“.
Heinz Bude: Gesellschaft der Angst. Hamburger Edition 2014. 16 Euro
Wunderwaffen
Heute kennen nur noch wenige Hans Dominik. Im 20. Jahrhundert waren seine Sciencefiction-Romane Volkslektüre. Was machte ihn so populär, wie vermied er die NS-Zensur, war er der visionäre Kopf hinter vielen neuen Waffensystemen?
Der Dortmunder Autor und Verleger Detlef Münch ist ein passionierter Verehrer der frühen deutschen Science-Fiction. In seinem Blickfeld ist dabei besonders Hans Dominik (1872 – 1945), der auch als deutscher Jules Verne gilt. „Mit seinen 38 utopischen Erzählungen und 16 Zukunftsromanen hat Hans Dominik zahlreiche Superlative des Genres übertroffen“, schreibt Münch in seiner neuesten Veröffentlichung über den Bestsellerautor: „Zukunftskriege. Wunderwaffen. Zukunftsreiche. Im utopischen Werk von Hans Dominik 1921 – 1934. Mit einer Betrachtung der NS-Zensur seiner Romane.“
Für die Journalistenvereinigung TELI ist Dominik von besonderer Bedeutung, gilt er doch als einer der Gründungsväter der 1929 in Berlin ins Leben gerufenen „Technisch Literarischen Gesellschaft“ TELI e.V. Die TELI ist der älteste Verein von Technikjournalisten der Welt.
Drei Millionen Bücher
Münch war unlängst bereits mit einem anderen Buch über Dominik an die Öffentlichkeit getreten. In „Der Bildner der Technik“, von der TELI ebenfalls besprochen, begegnet uns Dominik als rasender Vielschreiber, ein Aufklärer der Technik und Schwärmer, von sprühender Fantasie, dem nationalistischen Zeitgeist nicht gerade kritisch gegenüberstehend.
Wie schaffte es dieser Mann, mit einer Auflage von fast drei Millionen Büchern, „seit 1922 Deutschlands produktivster, bedeutendster und bis in die 1990er Jahre auch erfolgreichster und meistgelesener Science-Fiction Autor“, wie Münch herausstellt, nicht mit den Nationalsozialisten in Konflikt zu geraten, beziehungsweise nicht von ihnen gleichgeschaltet zu werden, wie der Rest der Presse und des Literaturapparats?
Militaristische Utopien
Dominik schwelgte ausgiebig in Kriegen, Waffen und Imperien, was durchaus der NS-Ideologie entsprach, aber er vermied konkrete und aktuelle Bezüge zur politischen Lage, sondern entwarf utopische Szenarien, mit denen sich keiner so wirklich identifizieren konnte. Dominiks oft banal-schwülstiger Stil wird von Aktion getrieben, was die Lektüre zwar nicht besonders erkenntnisreich macht, dafür aber spannend. Neue abenteuerliche Waffensysteme sind seine Lust, das Sahnehäubchen auf der Spannung, nichts für Pazifisten, dafür aber militärtechnisch weitsichtig.
Dominik erschrieb eine ganze Generation von Waffensystemen, die Jahrzehnte später tatsächlich entstanden und die Kriegsführung tiefgreifend veränderten. So 1909 bereits eine Langstreckenrakete, die als V2 im Jahr 1944 England angriff. 1921 das Überschallflugzeug „Rapid Flyer“, das 1941 in Gestalt des Messerschmitt-Raketenflugzeugs erprobt wurde. 1923 einen „künstlichen Feuersturm“, der 1941 als Phosphorbomben schreckliche Realität annahm. Schon 1926/27 kam in Dominiks Romanen die Atombombe zum Einsatz.
Ein Unbehagen bleibt, das nach ethischer Klärung sucht: Hat der ungeheuer populäre Dominik mit seinen militaristischen Utopien nicht vielleicht in die Köpfe der Nazis und der ihnen ergebenen Ingenieure Keime getragen, die zur Entwicklung der neuen Waffen beitrugen?
Witzwissenschaft oder mehr?
Österreichs Science Busters feiern ihr 10-jähriges Bühnenjubiläum mit einem neuen Buch. Mit Aha-Effekten und Effet, aber der richtige Spin fehlt manchmal.
Der absurde Buchtitel, warum Asteroiden immer in Kratern landen, hätte noch absurder ausfallen können, gestehen die Autoren, mit der Frage: Wie konnten die Dinos so blöd sein, dass sie sich alle zusammen auf einen Fleck stellten und so von einem Asteroiden ausgelöscht werden konnten? Damit ist der Grundtenor definiert, irgendwie schräg, aber wissenschaftlich.
Sonne immer heisser?
In insgesamt 33 Kapiteln mit Aufklärung über Wissenschaftsphänomene erfährt der Leser: Die verheerende Wirkung einschlagender Himmelskörper geht von der darauffolgenden Explosion aus, die für den Krater sorgt und je nach Detonationsstärke so viel Staub in die Atmosphäre katapultiert, dass er die Sonne verschleiert, wo wir wieder bei den Dinos wären, die am Kälteschock starben.
Das ist nicht unbedingt neu, doch für ein bestimmtes Klientel bestimmt hilfreich, zu erfahren, wie delikat die ökologische Balance auf diesem Planeten ist. Glauben doch viele Klimawandelleugner, wie Trump & Co, in Abrede aller wissenschaftlicher Evidenz: dass die Sonne heißer werde … Tatsächlich ist für die zunehmenden Wetterkapriolen die zunehmende Konzentration der Abgase aus fossiler Verbrennung, CO2 verantwortlich, die eine Art Treibhausdach bilden und die Abstrahlung der Wärme verhindern. Aber das pfeifen ja mittlerweile schon die Spatzen von den Dächern.
Regenbogenausscheidungen
Die Science Busters, in einigen Themen vielleicht ein wenig gestrig, haben aber auch den Mut, allfällige Tabus aufzumischen. Warum, in der Tat sehr witzig, unsere Hinterlassenschaften in der Kloschüssel farblich keinen Regenbogenverlauf aufweisen, sonders meist dunkelfarbig ausfallen. Das erfährt man, ein wenig langatmig und sehr wissenschaftlich, ist auf die Einwirkung unserer roten Blutkörperchen zurückzuführen.
Genial die Frage, wie der Vatikan mit Glutamat-Allergien umgeht, sind doch Hostien immer aus Weizen. Ginge der Körper Christi auch aus Reis oder Soja? Verwegen. Fast so frevlerisch wie die Frage, ob die Kirche trockenen Alkoholikern Saft statt Messwein als Blut Christi zumuten darf/muss?
Wursthandschuhe
Anderes dagegen ist schwergängig, beispielsweise ob Engel Säugetiere seien, anderes banal, ob Gummihandschuhe an der Wursttheke Verkäufer, Wurst oder Kundschaft schützen? Keinen, denn die Plastikhandschuhe und die feucht-warme Umgebung sind ein idealer Brutherd vor Bakterien aller Art. Haben wir das nicht gewusst, zumindest geahnt? Wann kommt aus Brüssel das Hygiene-Gesetz, welches regelmäßigen Handschuhwechsel vorschreibt, zumindest nach jedem Geldkontakt?
Aber vielleicht ist das streckenweise fehlende Verständnis für die Buster-Kunst auch dem Unterschied zwischen deutschem und österreichischem Humor geschuldet, was ja an sich schon für viele eine Lachnummer wäre. Die kulturellen Unterschiede brechen bereits in der Wortwahl hervor. So sagt der deutschsprachige Alpenländler den Hintern „auswischen“ und spricht von der „Klomuschel“. Kleine wortmalerische Nuancen, die die Vorstellung angenehm bereichern.
10 000 Trilliarden – Hä?
Das Buch stampft in Wellenbewegungen durch die Forschung, manchmal flach, bis ganz steil. Was kostet ein Asteroid für den Eigenbedarf? Tolle Frage, mit einer Antwort mit 25 Nullen. Gleich zehn Quadrillionen Dollar sind gleich 10 000 Trilliarden, noch plastischer: „Um den Wert des Asteroiden Psyche zu erwirtschaften, müssten die Vereinigten Staaten bei gleichbleibender Wirtschaftsleistung schlappe 55 Billionen Jahre arbeiten“ (S. 185, 1 Billionen = 1 000 000 000 000, d. A.).
Die Rede ist von einem kosmischen Körper von 250 Kilometer Durchmesser, dessen Innerstes die für die Erde und die Zukunft unserer Zivilisation kostbarste Schätze enthält: Gold, Silber, Eisen, Aluminium, Titan, Mangan, Palladium, Rhenium, Osmium – 20 Trillionen Kilogramm davon. Aber: Zwar könnte man mit Sonden zu diesem Paradiesvogel gelangen, wie aber abbauen oder den Klotz zu Erde dirigieren, ohne dass durch den Einschlag das Leben auf dem Planeten auf das Spiel gesetzt würde?
Grönlandwein?
Also, reine Zukunftsmusik, die allerdings die Phantasie beschäftigt – und das war bisher immer der edelste Antrieb für Forschung und Technologie (siehe auch oben die Ethikfrage zur den „Wunderwaffen“). Das ist alles lustig, auch die dazugehörige Show, mit ausverkaufter Premiere im Münchner Lustspielhaus. Die präsentierte Fake News aus dem Mittelalter. Gab’s Grönlandwein? Nein, Eric der Rote erfand ihn, um bei seiner Verbannung auf die Insel mit dieser Lüge andere Wikinger zum Mitgehen zu animieren.
Reisen für eine bessere Welt
Jetzt werden bereits fleißig Reisepläne für 2018 geschmiedet. Doch wie reisen – zwischen Psychohygiene und Umweltpflege. Mathilde Kettnaker, Vielreisende, mit Öko-Gewissen, hat darauf den Reiseführer „FAIRreisen“ untersucht.
Der auf Umwelt spezialisierte Münchner oekom Verlag legt mit FAIRreisen ein detailliertes Handbuch vor mit etlichen Fallbeispielen, darunter:
Transport/Fortbewegung: Hier rechnet der Autor anhand von Kreuzfahrten, Kreuzflügen (Luxusreisen im Flugzeug über Wochen mit vielen Zwischenstopps), Linienflügen, Auto, Bus und Zug vor, wieviel Ressourcen wir verbrauchen, wie sehr dies das Klima belastet, was CO2-Emissionen sind und was wir mit der Wahl unseres Transportmittels bewirken können (S. 47ff). Trotz Versuche mit alternativen Treibstoffen für Flieger (Agrotreibstoffe wie Mais, Zuckerrohr, Raps, Soja, Palmöl, S. 58). Für die Luft gibt’s noch keine grüne Energie.
Menschen: Hier werden zwischenmenschliche Begegnungen beschrieben, von Touristen und einheimischer Bevölkerung, Formen der Ausbeutung. Weltweit arbeiten 168 Mio Kinder, davon ca. die Hälfte unter menschenunwürdigen bis sklavenähnlichen Bedingungen. Viele dieser Kinder arbeiten im Tourismus (Gepäckträger, Service- und Reinigungspersonal, Tourguides, Herstellung von Kunsthandwerk). Kinderarbeit verhindert, dass Erwachsene Arbeit und gerechte Löhne finden (S. 101f).
Tiere: Diese werden durch die Tourismusindustrie oft misshandelt, etwa bei der Zur-Schau-Stellung von Orcas, Walen, Delfine in Aquarien und bei Shows, beim Elefantenreiten in Asien, Verzehren des Fleisches bedrohter Tiere (S. 144ff). 2015 schoss ein US-Trophäenjäger den Löwen Cecil auf einer illegalen Jagd in Simbabwe. Cecil war die Touristenattraktion im Hwange-Nationalpark – eine Million Menschen unterzeichneten eine Onlinepetition gegen die Trophäenjagd. Legal gehen laut prowildlife.de allein in Afrika jedes Jahr mehr als 18.000 Ausländer auf Jagd und töten 100.000 Wildtiere. Lizenzen hierfür werden versteigert oder von Reiseveranstaltern besorgt.
Armut besiegen
FAIRreisen stellt die Frage nach Tourismus mit Verantwortung und wie sich das eigene Reiseverhalten verbessern lässt. Das Buch schafft Übersicht durch anschauliche Tabellen. Etwa bei „Globaler Tourismus auf Rekordjagd“ (S.17ff): 2015 reisten die Deutschen um 1,8 Prozent mehr als im Vorjahr, Grund: steigende Reallöhne, niedrige Arbeitslosenzahlen, Konsumlaune, günstige Treibstoffpreise.
Keine Kreuzfahrten und Kreuzflüge!
Welche Reiseführer geben mir faire, grüne Reisetipps? Welche Veranstalter engagieren sich für fairen, grünen Tourismus? Welches Transportmittel wähle ich für den Klimaschutz? Flüge, Kreuzflüge und Kreuzfahrten zu vermeiden ist der beste Klimaschutz. Die umweltfreundlicheren Alternativen sind: Busse und Bahn, am allerbesten: Wandern und Radfahren (S. 286). Welche Art der Unterkunft wähle ich? Verhalten sich Besitzer, Angestellte fair, grün und beispielhaft?
FAIRreisen hält auch unangenehme Überraschungen parat: Auf wie wenige Veranstalter das Reiseangebot in Deutschland geschrumpft ist (sieben „große“ Veranstalter mit TUI an der Spitze, S. 29). Wie wenig die meisten „Gastländer“ von den Tourismuseinnahmen haben. So wird in vielen All-inklusive-Hotels/Urlauben sogar das Essen aus dem Ursprungsland der Touristen importiert. Die allermeisten höheren Positionen in der Tourismusbranche der Gastländer werden von Ausländern besetzt; die einheimischen Angestellten im Service werden dafür schlecht bezahlt und arbeiten unter miserablen Bedingungen.
Lokal einkaufen
Umweltsiegel gibt’s wie Sand am Meer – nur einige sind tatsächlich seriös (S. 205ff: EarthCheck. EUROPARC. Fair Trade Tourism. Green Globe. Ibex fairstay. TourCert. Travelife. Viabono). Wichtige Reisetipps aus der Sicht des Autors: Trinkgeld – vorher nach den Gepflogenheiten erkundigen, generell großzügig sein, wenn gerechtfertigt (S. 293).
Umweltschutz (S. 296) – beim Schnorcheln ein T-Shirt tragen, Sonnencreme sparen. Konsum (S. 297) – lokale Restaurants, Läden und Märkte bevorzugen statt Supermärkte und Hotel- und Restaurantketten. Das kommt dem lokalen Einkommen zugute.
Wichtig für die Reiseausrüstung (S. 287): Outdoorkleidung, die mit grünem Image wirbt, ist nicht immer grün & fair hergestellt, schlechte Arbeitsbedingungen und Niedriglöhne bei Patagonia und North Face. Bei vielen Outdoorkleidungsstücken werden umwelt- und gesundheitsschädliche Schadstoffe eingesetzt, die sie atmungsaktiv und wasserdicht machen. Diese emittieren die Reisenden, oft in entlegendsten Regionen der Welt, wo sie ins Grundwasser sickern und sich schließlich in der Nahrungskette wiederfinden. Um das zu vermeiden, gibt es viele wichtige Tipps für faire Outdoorausrüstung (S. 290)
Kosmische Vampire
Wo Lesch draufsteht, ist auch Lesch drin. Ein fesselndes Buch zum diesjährigen Physik-Nobelpreis: die Entdeckung der Gravitationswellen.
Durch dieses Buch ist man in anderthalb Stunden durch. Groß die Schrift, 120 Leseseiten, mit großen Weißanteilen. Auch diese optische Lockerheit trägt zum entspannten Lesen eines anspruchsvollen Themas bei: Was Gravitationswellen sind, mit welchen Instrumenten sie entdeckt wurden, und wie das alles mit Einsteins Relativitätstheorie zusammenhängt.
Der große Meister popularisierender Astrophysik Harald Lesch zusammen mit acht Mitstreitern schafft es, das Thema knackig und bündig abzuschreiten, erklärerisch in Einsteins Sinne: „Wenn du etwas deiner Oma nicht erklären kannst, dann hast du es selbst nicht begriffen“, ist vom Entdecker der Relativität überliefert.
150 Milliarden Grad
Gleichwohl sich fragt, ob jeder Laie so viel über Relativität und die Messinstrumente wissen muss, wie die Autoren sich selber an Wissensvermittlung abverlangen. Geradezu zu knistern vor Spannung beginnt das Buch im Mittelteil, wo sich zwei Schwarze Löcher vereinen. Sie waren die Quelle der kosmischen Turbulenzen, die 2015 mit aufwändigster Technologie auf der Erde aufgefangen wurden, wofür drei Physiker 2017 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurden.
Man stelle sich vor, beim Ausbrennen einer Sonne erfährt Materie eine derartige Verdichtung, dass ein Zuckerwürfel davon 100 Millionen Tonnen wiegt, bei einer Temperatur von 150 Milliarden Grad. 65 Sonnenmassen, verdichtet auf die halbe Fläche von Hessen, die alles anziehen, auch das Licht. Wie sich zwei schwarze Löcher Jahrmillionen wie bei einem Tanz der Vampire umschleichen, einander immer näher geraten, sich dann in Sekundenschnelle vereinen, dabei einen gigantischen Blitz durchs Universum schicken, der nach weiteren Jahrmillionen unseren Planeten durchfährt.
Klein und stolz
Vor so viel Größe der Natur fühlen wir uns als Menschen sehr klein, aber durchaus stolz, diese Vorgänge nicht nur in der Theorie begriffen, sondern hundert Jahre später auch nachgewiesen zu haben.
Teufels oder Gottes Werk?
Wetten dass – Sie gerade im innigen Kontakt mit der Chemie sind, es nicht wissen und heute mindestens schon hundertmal in Kontakt waren! Dennoch, die allgegenwärtige und unser Leben bestimmende Chemie ist kein Burner, sondern eher abstoßend für die Öffentlichkeit. Frische Dialogformate könnten helfen, das Negativimage zu überwinden.
Chemie: zwischen Hexen- und Zauberküche. Wir alle sind von ihr irgendwie abhängig. Ob bei Medikamenten, Handy-Displays, Waschmittel, Dünger, schreibt im Geleitwort Forschungsminister a.D. Heinz Riesenhuber, der sich mit seiner vornehmen Fliege am Hals ins kollektive Bewusstsein grub. Eine zivilisatorische Zukunft ohne Chemie erscheint in der Tat wenig denkbar. Ja, die ganze Natur und Schöpfung ist ohne Chemie nicht begreifbar.
Doch trotz prominenten Fürspruchs ist den meisten Deutschen diese Wissenschaft zutiefst suspekt: als giftig und gefährlich. Die Zunft fragt sich, warum, und wie sich ihr Fach in der öffentlichen Meinung wieder in ein günstigeres Licht rücken ließe. Dazu luden die Deutsche Akademie für Technikwissenschaften acatech und die Gesellschaft Deutscher Chemiker GDCh zu einer dreitägigen Tagung ins Deutsche Museum zu München. Daraus entstand „Zwischen Faszination und Verteufelung: Chemie in der Gesellschaft“.
Stinken und krachen lassen
Bei der Anamnese, Diagnostik und Therapie des maladen Forschungspatienten schienen sich renommierte akademische Vertreter, darunter der Wissenschaftstheoretiker Klaus Mainzer von der TUM einig, dass sich die Chemie in der Gesellschaft isoliert habe und dass sie sich wieder mehr mit den Menschen verzahnen müsse. Wie? Indem, wie früher, nicht nur reine Chemie, sondern auch die wichtigen Randbereiche, Chemiegeschichte, Ethik, Wissenschaftsphilosophie mitgelehrt werden, das Fach transdisziplinär aufgezäumt werde.
Indem das Fach bereits in der Schule aufgehübscht wird und es bei Schülern seinen Schrecken verliert. Des Rezensenten Chemielehrer war ein passionierter Experimentator, dem zwar nicht alles gelang und der sich selbstironisierte, mit: „Chemie ist, wenn es stinkt und kracht“ – aber gerade deshalb haben wir seinen Unterricht genossen und vieles davon ist hängengeblieben, im Unterschied zu seiner Kollegin, die uns lieblos trockene Formeln einzubimsen versuchte.
Faustische Pakts
Das Resümee der Tagung liest sich meistens flüssig, auch für Laien, bisweilen unterhaltsam, wenn etwa Mitherausgeber Joachim Schummer in die Religionsmythen blickt und die frühen Chemiker mit Teufeln vergleicht, die dem Schöpfer in die Suppe spucken wollten, wenn von besessenen Alchemisten die Rede ist oder faustischen Pakts mit dem Teufel.
Was fehlt ist eine Analyse, warum und wodurch die Chemie in neuerer Zeit den Schwarzen Peter in der Wissenschaft zugeschoben bekam, sind doch die Biologie mit der Gentechnologie und die Physik mit der Atombombe und Kraftwerkbau mindestens genauso belastet. So wird’s am Ende denn mal wieder die Wissenschaftskommunikation richten müssen, die in den letzten Jahrzehnten große Fortschritte gemacht hat und sich mehrfach neu erfunden hat.
Bürger frühzeitig einbinden
Marc-Denis Weitze, Mitherausgeber des Buches und Leiter der Technikkommunikation bei acatech, verweist im Epilog auf die Notwendigkeit neuer und moderner Dialogformate. Das Stichwort dabei ist „frühzeitige Einbindung der Öffentlichkeit“, was die Deutsche Technikakademie beim Einführen der künstlichen Fotosynthese praktiziert. Sie könnte eines Tages sämtliche Energieprobleme lösen, ist aber derzeit noch so visionär, dass selbst gestandene acatech-Forscher Schwierigkeiten mit der Einordnung haben.
Dennoch, was zählt, schreibt Weitze, ist die Möglichkeit, dass „Bürger die Technologie und ihren Einsatz mitgestalten, anstatt sie später nur zu nutzen oder als Betroffene zu erleben“. Formate, die acatech bei der künstlichen Fotosynthese bespielt hat, sind Science Cafés, Comic-Workshops, Storytelling-Events. Eine weitere Form, bisher wenig ausprobiert, sind Humor, Komödie, Wissenschaftskabarett.
Hand aufs Herz: Brächten die Chemiker den Mut auf, sich mit ihren Fehlern und Versäumnissen einmal selber durch den Kakao zu ziehen, hätte das möglicherweise einen nachhaltigeren und insgesamt positiveren Aufklärungs- und Öffentlichkeitseffekt als jedes Symposium. Dass in der Chemieküche weder Götter noch Teufel am Werk sind, sondern nur fehlbare Menschen.
Geniales A….loch
Dies ist das lesenswerteste Buch, das dem Rezensenten in 2017 untergekommen ist. Ein Sachbuch, spannend wie ein Roman, hard-core Physik eingebettet in viele humorige Erzählerchen über Isaac Newtons, Egoist und Ekel, seinen Intrigen mit seinen Zeitgenossen, das geschichtliche und wissenschaftliche Umfeld in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts.
Er war nicht nur der mit dem Apfel, der Gravitation und der damit das Universum neu definierte, er war Universalgelehrter, unstillbar neugierig, der sich Nadeln in die Augen stach, um den Geheimnissen des Lichtes auf die Spur zu kommen, und der bei der Durchsetzung seiner Lehre und Ziele den Machiavelli herausließ.
Fisimatenten der Forscher
Steile These, die der Autor nur durchscheinen lässt, die die Fantasie beim Lesen beschäftigt und die vertieft gehörte: Wissenschaft gilt als feiner Diskurs – gehören Rempeleien und Fisimatenten zum Tagesgeschäft der Erfolgreicheren?
Bei aller Abscheu vor der Person Newtons: Er stellte die Weichen in die wissenschaftliche Neuzeit. Kein Interpretieren antiker Texte, war sein Credo, sondern solides Wissen auf der Basis von Experimenten, Beobachtungen, Fakten und Mathematik: So fand er, dass überall im Universum die gleichen Gesetze herrschen, Äpfel und Bälle, Planeten wie auch Sternen ihnen unterliegen. In einer Zeit, als Wissenschaft noch als Muse und Zeitvertreib wohlhabender Männer galt, mithin Spielerei war.
Egomanische Mimose
Der Mann hatte eine wahrhaft schillernde Persönlichkeit, so wie ihn der Astronom, Wissenschaftsautor und Kabarettist Florian Freistetter (Science Busters) beschreibt. So wie er wie ein wildes Tier für seine Thesen kämpfte, unter Anwendung aller Fouls, so scheute er die Kritik seiner Fachkollegen, ja hatte eine geradezu panische Angst davor. Der Egomane war ein Mimöschen. Dazu, bei aller wissenschaftlichen Genialität, ein Weltuntergangsprophet und Alchemist, enthüllt der Autor. Die Physik vielleicht nur ein „Hobby“, das er „zwischen seine theologischen und alchemistischen Studien zwängte“. Geistig mit seinen Lesern Achterbahn fahren, nennt sich das.
Florian Freistetter: Newton. Wie ein Arschloch das Universum neu erfand. Hanser 2017. 16,00 Euro.
Kann Kunst denn Sünde sein?
Über den Mensch im Konflikt zwischen Räson, Kunst und einfach Mensch-Sein.
Dies hätte auch ein Roman über die Mathematik und Physik werden können, Geist und Ratio, die sich in den klassischen Naturwissenschaften niederschlagen. Sie blitzen immer wieder durch in diesem Text, in Gestalt von Geraden und Winkeln, Formeln und Schachspiel: die auf Logik und Analytik beruhende Welt.
Auch wenn manchen die Vorstellung nicht behagt: Unsere Welt ist viel mehr als das, Emotion und Schicksal, voll der geheimnisvollen Mächte, innerhalb und außerhalb von uns, wie sie sich des Nachts in unseren Träumen offenbaren. Für Darstellung, Erklärung und Interpretation dieser Schattenwelt gibt es nur eines: die Kunst.
Sieben Todsünden
Sie bringt das Unerklärliche zum Ausdruck, flirtet zwar mit geometrischen Formen, nutzt in Musiknoten Systematik und Rechenmodelle, doch am Ende schwingt sie sich auf die Meta-Ebene ein, eigenwillig und oft unergründlich, doch hammer-real.
So auch in diesem Roman, dem vierten des Kieler Autors Henning Schöttke, als Teil eines siebenteiligen Romanzyklus zu den Todsünden. Dieser ist jetzt der Kunst und dem Stolz gewidmet. Mit der Heldin Bianca, die als kreative Musikerin Karriere macht, sich aber in Schuldgefühle über den Tod des geliebten Vaters verstrickt, eigentlich völlig irrational, für sie aber ein Fakt.
Mensch bleiben
Am Ende gelangt der Leser zur Erkenntnis: Weder der Homo faber, Ingenieure und Technikmenschen regieren, noch „l’art pour l’art“, eine sich in Kunst erfüllende Menschheit, sondern es zählen nur der Mensch und sein Menschsein.
Insofern war Biancas drogensüchtiger Vater und Straßenmusiker, dem nie eine Karriere in Musik und Kunst vergönnt war, der sich aber um seine Tochter hingebungsvoll kümmerte, während sie sich in ihrem Ehrgeiz streckenweise den Menschen entfremdet, der bessere Mensch.
Läuterungseffekt
Ein klassischer Entwicklungsroman, 40 Jahre Zeitgeschichte überspannend und kunstvoll verschachtelt, fesselnd und lesenswert, mit der fast altmodischen Botschaft: Familie ist für unser Glück entscheidend. Und bleibe auf deinem Lebensweg und deinem Erfolg authentisch, human und du selbst! Für diesen Katharsis- und Läuterungseffekt hätte Biancas Band ruhig noch ein wenig lautstarker trommeln können.
Insgesamt mit liebevollen Details (CD mit Songs des Autors sowie Leseprobe), Anspielungen, vielen autobiografischen und an die klassische Bildung: Wer weiß, dass im antiken Katalog der sieben Todsünden Superbias für Stolz, Hybris, Selbstliebe steht (gleichwohl dieses Merkmal an der gleichnamigen Romanheldin noch viel stärker herausgefräst gehörte, um damit bleibenden Eindruck zu hinterlassen). Schöttkes wachsende Fangemeinde darf gespannt sein, in welche Personen und Schicksale der Autor die verbleibenden drei letzten Todsünden (Neid, Geiz, Hass) verpackt, die zum Schließen des Romanzyklus noch erforderlich sind.
Henning Schöttke: Superbias Lied. Verlag Stories & Friends 2017. 19.90 Euro
… und am Ende
… fehlt noch ein wichtiges Buch zum Verständnis der Frage, wo wir geistig herkommen und wo wir hingehen: Johannes Salzwedel (Hg.): Die Aufklärung. Das Drama der Vernunft vom 18. Jahrhundert bis heute. dva, München 2017
… mehr Aufklärung darüber demnächst auf diesen Seiten.