Auf Wunsch des TELI-Vorstands, dem ich seit 2017 angehöre, durfte ich erstmals an der Generalversammlung des europäischen Verbandes EUSJA im März 2024 teilnehmen. Und ja, die finnische Gastfreundschaft hat mich überwältigt. Es waren ungeheuer wertvolle Tage, die mein weiteres Leben prägen werden. Ein paar meiner ganz persönlichen Erkenntnisse und Eindrücke dieser Finnland-Reise möchte ich daher in Dankbarkeit teilen.
1. Busfahrer helfen Fremden
Finnland sieht sich als Hightech-Vorreiter. Das ändert aber nichts daran, dass auch in Finnland nicht immer alle Technik funktioniert. Kläglich gescheitert sind meine Versuche nach meiner Ankunft am Flughafen von Helsinki, das Busticket beim einzigen Ticket-Automaten weit und breit zu lösen. Der Automat war kaputt. Auch online scheiterte ich mit meinen Versuchen, ein Ticket zu lösen. Ich fragte meinen Busfahrer, was ich tun soll. Er winkte mich freundlich herein und sagte mir, dass ich mitfahren und mir keine Sorgen machen soll. Als die Kontrolleure kamen, klärte er die Lage auf. Ich bekam von ihnen keinen Ärger, sondern nur den Tipp, dass Tickets auch am Kiosk erhältlich sind. SO wünsche ich mir den Umgang mit Fahrgästen. DANKE! Bin mir nicht sicher, wie Busfahrer in Deutschland in einer ähnlichen Lage reagiert hätten…
2. Es werde Licht
Der weltberühmte finnische Architekt Alvar Aalto hat gefühlt in so ziemlich jeder Ecke Finnlands seine Spuren hinterlassen. Der von ihm (und seinem Team) konzipierte Otaniemi Campus der Universität von Helsinki ist ein berühmtes Beispiel für die Berücksichtigung der Lichtführung – organisches Bauen war der Ansatz, für den Aalto berühmt ist. Mich begeistert die Lebensleistung dieses Mannes, hinter dem wie so oft starke Frauen stehen. Unser Guide hat deutlich durchblicken lassen, wie viel Einfluss die beiden Frauen an der Seite von Alvar Aalto wirklich hatten. Ehre, wem Ehre gebührt.
3. Mechanik ist durch Nichts zu ersetzen
Das nach finnischen Angaben weltgrößte Testbecken zur Erforschung von Eis- und Welleneinfluss, der Aalto Ice Tank, hat auf absehbare Zeit wohl noch trotz Fortschritten in der Computer-Technologie seine Existenzberechtigung. Die Computer-Modelle brauchen eine reale Referenz. Meine Erkenntnis: Solide Mechanik und praktische Erfahrung ist durch Nichts zu ersetzen.
4. Dummheit ist grenzenlos
Die EUSJA-Generalversammlung fand mitten in einem landesweiten Streik gegen einige der Maßnahmen der neuen, rechts-populistischen Regierung statt. Wie mir meine finnischen Gesprächspartner(innen) erklärten, ist die Empörung groß, weil der erste Krankheitstag nicht mehr bezahlt werden soll. Irgendwie kommt mir das bekannt vor, ähnliche Versuche gab es ja auch schon in anderen Ländern. Mit einem ganz eindeutigen Ergebnis: Diese Maßnahme ist kontraproduktiv, schadet also mehr als sie nützt. Was bringt es, wenn jemand mit z. B. einer leichten Erkältung zur Arbeit geht und alle Kolleg(innen)en ansteckt? Mal ganz abgesehen davon, dass sich der Staat nicht in die Tarifautonomie einzumischen hat. Ich finde es bedauerlich, dass die finnischen Regierungsparteien nicht bereit und/oder in der Lage waren, aus den Erfahrungen ihrer europäischen Nachbarn zu lernen. Dummheit ist offensichtlich grenzenlos.
5. Wer wagt, gewinnt
Der EUSJA-Besuch in diversen Forschungslabors führte uns zu hoch motivierten, für ihre Aufgaben brennenden Mitmenschen. Im Small Satellite Labor der Aalto University erfuhren wir, wie aus kleinsten Anfängen ein blühender Industriezweig entstanden ist. Wer wagt, gewinnt.
6. Eisbaden tut gut
Jetzt kann ich es ja zugeben: Vor einer Sache hatte ich beim Studium des Rahmenprogramms richtig Angst: dem angebotenen Eisbaden. Ich bin ein wärmeliebender, gerne warm duschender Mensch. Aber mein Respekt vor fremden Kulturen hat für mich immer auch die Bereitschaft eingeschlossen, (so gut wie) alles auszuprobieren, was die Einheimischen im jeweiligen Land machen. Und zu Finnland gehört nun mal die finnische Sauna. Mit anschließendem Bad in eiskaltem Wasser. Üblicherweise in Badekleidung. Als Deutscher war ich es gewohnt, dass in der Sauna laute Gespräche höchst unerwünscht sind. In Finnland dagegen erlebte ich ohrenbetäubenden Lärm, ein Grund dafür, dass Frauen und Männer häufig getrennt saunen. Es geht geschlechterspezifisch meist um unterschiedliche Themen. Es hat mich gewaltige Überwindung gekostet, anschließend ins Eiswasser zum Schwimmen zu gehen. Dreimal habe ich es geschafft und es unerwartet länger als ursprünglich geplant (und von meinen finnischen Begleitern empfohlen) im Becken ausgehalten. Ich bin ein Held! Danach war sich so was von frisch und gut gelaunt, es war kaum auszuhalten. Eisbaden ist nicht nur gesund. Mir tut es auch richtig gut.
7. Die Zeit läuft ab
Im Biocenter der Universität von Helsinki demonstrierte uns Professor Ville-Petri Freeman, wie sich in sehr kurzer Zeit neue Baumsorten züchten lassen, die dem Klimawandel besser angepasst sind. Wir rasen ja gerade auf eine Erderwärmung zu, die eher bei 2,9° Celsius als bei den angestrebten 1,5° Celsius liegen dürfte – mit absehbar katastrophalen Folgen für die Menschheit. So ganz nebenbei erzählte mir der langjährige ehemalige TELI-Vorsitzende Hajo Neubert, ein bis heute führender Wissenschafts-Journalist im Bereich der Klimaforschung, wie wenig wissenschaftlich fundierte Erkenntnisse in die praktische Politik einfließen – ein Beispiel sei die völlig sinnfreie Debatte über die verlängerten Laufzeiten der Kernkraftwerke in Deutschland. Meine Erkenntnis: Wir müssen lauter werden als Wissenschaft-Kommunikatoren, die Zeit läuft unweigerlich ab, in der sich der Klimawandel wenigstens noch deutlich abbremsen lässt.
8. Einfache Antworten gibt es nicht
Die Massentierhaltung mit entsprechender Behandlung der auf unnatürliche Tierhaltung zurückzuführenden Verabreichung von Medikamenten gilt gemeinhin als DIE Ursache für die zunehmende Resistenz gegen Antibiotika. Dass es nicht ganz so einfach ist, erfuhren wir im Microbiology Laboratory der Universität von Helsinki: Antibiotika-Resistenzen gab es bereits in vorindustrieller Zeit, ein ganzes Maßnahmebündel wie die Trennung von Bereichen, in denen Tiere gehalten werde, müsse daher verabschiedet werden. Der Verbot der Massentierhaltung allein, so die Wissenschaftler auf meine Nachfrage, sei daher nicht ausreichend.
9. Freiheit ist ein Erfolgsrezept
Der Besuch der Alvar Aalto Museen begeisterte mich, stolzer Vater einer Architektin, auf vielfache Weise: Ich bewundere zahlreiche pragmatische Lösungen, etwa schalldämpfende Waschbecken oder Türgriffe, an denen frau nicht so leicht hängenbleibt oder ein erhöhtes Bett, um darunter Platz für die ideale Kopffreiheit für die Treppe zu schaffen. Aalto, genauer sein Team, und mich verbinden die Bereitschaft, viel Neues zu wagen, mit Konventionen zu brechen – und dennoch Althergebrachtes zu respektieren. Auf Nachfrage erklärte mir unser Guide, dass die Angestellten bei Aalto offenbar ein Höchstmaß an Selbstverantwortung hatten. Freiheit und Respekt vor der Individualität – ganz offensichtlich ein Erfolgsrezept. Nicht nur für Architekt(ins)en.