Mach den Mund auf und lebe! Oder halt die Klappe und stirb!

Merken Sie sich gut die obige Überschrift. Sie ist eine wichtige Sicherheitsformel für Menschen, die mit Risiken umgehen oder darüber berichten. Über die Fallgruben der Risikokommunikation am Beispiel der Atomenergie. Und wie sie vermieden werden.

Risikokommunikation: Workshop-Teilnehmer (c) Goede
Risikokommunikation: Workshop-Teilnehmer (c) Goede

„Das nukleare Geschäft ist nicht besonders sexy.“ Damit eröffnete Pedro Dieguez Porras den Workshop „Stärkung der Nuklearen Sicherheitskultur“, organisiert vom Weltverband der Wissenschaftsjournalisten WFSJ in München. Atomkraftwerke und deren Sicherheit gehörten aber zum Alltag in Europa und man könne sie nicht ignorieren, fuhr der Generalsekretär des European Nuclear Education Network (ENEN) fort.

EU-Risiko: 33 Prozent Atomstrom

In der EU sind 130 Kernreaktoren im Betrieb und 40 Forschungsreaktoren, abgesehen von 444 weiteren weltweit mit zusätzlich 63 Anlagen im Bau. Ein Drittel der in der EU verbrauchten Energie stammt aus Atommeilern, erklärte Dieguez Porras, in Frankreich sogar drei Viertel. Die Anlagen bedürften der besonderen Aufmerksamkeit. Jede Panne könnte sich in den dicht besiedelten Regionen Europas zu einer großen Bedrohung auswachsen.

Die damit verbundenen Risiken werden von Land zu Land, von Kontinent zu Kontinent unterschiedlich wahrgenommen. Didier Louvat, Geschäftsführer des European Nuclear Safety, Training & Tutoring Institute ENSTII, machte sie unter anderem an der Größe der Länder fest. In den USA gebe es viel unbesiedelten Raum, in Russland sogar noch mehr, in Japan dagegen werde jeder Quadratmeter genutzt. Hieraus ergeben sich für die Bevölkerungen unterschiedliche Bedrohungspotenziale, folgerte Louvat.

Humanes Risiko: Reflexiver Gehorsam

Ein anderer wichtiger Vektor ist Kultur und Psychologie. Danach wird das weiterhin ungelöste Problem der Endlagerung des atomaren Abfalls völlig unterschiedlich wahrgenommen, von Deutschen und Mitteleuropäern viel kritischer als von US-Amerikanern, Russen, Japanern. Entscheidender für Louvat sind allerdings „reflexive Gehorsamkeit“ und „der Unwille, Vorgesetzten zu widersprechen“. Beides trug in Japan zur Nuklearkatastrophe 2011 in Fukushima bei.

„Denken Sie selber mit und fordern Sie den Betreiber heraus“, empfahl der ENSTII Trainer. Dieser Ratschlag gilt nicht nur für die Mitarbeiter einer nuklearen Anlage, sondern auch für Journalisten, die über Atommeiler sowie Störfälle recherchieren.

Technisches Risiko: Alte Reaktoren

Das Münchner Workshop fand in Kooperation mit dem EU Projekt NUSHARE statt. Es widmet sich der nuklearen Sicherheitskultur in Europa und entstand nach dem Unglück von Fukushima. Das Projekt wendet sich vor allem an Meinungsführer und Politiker, die Kommunikationsberufe sowie Journalisten.

Simulierte TV Debatte über nuklearen Störfall (c) Goede
Simulierte TV Debatte über nuklearen Störfall (c) Goede

Leon Cizelj, Professor für Reaktorbau, machte die Journalisten auf einen anderen Sicherheitsfaktor aufmerksam. Die meisten Reaktoren in Europa stammen aus dem letzten Jahrhundert und verlangen immer mehr Wartung. Gleichzeitig würden die Sicherheitserfordernisse immer anspruchsvoller. Für all diese Arbeiten stehe immer weniger Fachpersonal zur Verfügung.

Kompetenz-Risiko: Widersprüche der Betreiber

„Nur fünf Prozent der Lehrpläne an den Hochschulen Europas enthalten noch Reaktorbau“, sagte Cizelj. Wichtiges Wissen für den Betrieb der Nuklearanlagen gehe verloren. Das Abschalten der Reaktoren und deren Abbau, wie etwa von der deutschen Regierung nach der Fukushimakatastrophe beschlossen, sei eine große personelle und technische Herausforderung für die Industrie, räumte der Ingenieur ein.

Mehrere der fünfzehn journalistischen Teilnehmer trugen mit eigenen Fallbeispielen zum Workshop bei. Darunter Ann MacLachlan, eine Energiejournalistin aus Frankreich. Beim Tricastin-Meiler an der Rhône in Südfrankreich war es im Sommer 2008 zu einem Alarm gekommen. Die Betriebsleitung verwickelte sich in Widersprüche und Fehlinformationen.

Journalisten: Fragen stellen!

Simulierte Pressekonferenz über Zwischenfall (c) Goede
Simulierte Pressekonferenz über Zwischenfall (c) Goede

Am Ende stellte sich heraus, dass toxische Grenzen gar nicht erreicht worden waren. Der Fehlalarm hatte Verluste in Höhe von 25 Millionen Euro zufolge. „Checkt die Fakten“, empfahl MacLachlan, „und stellt immer wieder Fragen“.

In einem praktischen Teil bearbeiteten die Teilnehmer simulierte Störfälle. Sie präsentierten sich in einer Fernsehpressekonferenz und einer Fernsehdebatte. Dabei stellte sich heraus, dass Wissenschaftsjournalisten wenig auf die Rolle des Moderators vorbereitet sind. Diese Kompetenz müsste in der Ausbildung, Fortbildung und Berufspraxis viel mehr trainiert werden.

Lufthansa: Kapitän entmachten!

Das NUSHARE Workshop war Teil des EUROSAFE Forums 2016 für nukleare Sicherheit in Europa. Im Plenum sprach Jan Bens, Generaldirektor der nuklearen Kontrollbehörde Belgiens über die rasch anwachsenden Risikofaktoren in den letzten Jahren, darunter Sabotageakte, Cyberattacken und jüngst Drohnenzwischenfälle.

Der Lufthansapilot Manfred Müller untersuchte Risiken aus der Sicht der Zivilluftfahrt. Fliegen gehört zu den sichersten Beförderungsformen, mit nur einem Unfall alle 100 Millionen Flugmeilen, sagte er, „dennoch begeht ein Pilot stündlich zwei Fehler“, verriet er. Wenn der Erste Offizier im Cockpit beim Kapitän einen solchen wahrnimmt, muss er ihn nach Lufthansaregeln verwarnen und bei einem zweiten Fehler ihn von der Flugleitung entbinden.

Alle: Kritik annehmen!

„Wir bemühen uns um eine Sicherheitskultur, die das Äußern von Kritik sowie das Annehmen von Kritik ermutigt“, sagte Müller. „Verstecken Sie nicht ihre Schwäche“, forderte er sein Publikum auf und fasste seinen Vortrag mit einem provokativen Satz zusammen: „Mach den Mund auf und lebe! Oder halt die Klappe und stirb!“

Am Ende des Workshops kündigte Anne-Marie Legault, WFSJ Projektleiterin, eine Fortführung der Veranstaltung an. Seminare rund um Infektionskrankheiten wie Ebola und Zika würden sich demnächst ebenfalls mit der Risikokultur befassen. Das solle zur Verminderung von Fehlinformation, Spekulation und Panik bei den betroffenen Bevölkerungskreisen beitragen.

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