TELI-Sternstunden-Bücher zu Weihnachten 2018

Hier, wie schon in den Vorjahren, ein Schwung Wissensbücher, die vielleicht einen Platz unter Ihrem Christbaum verdienen, als liebevolle und nach wie vor sehr persönliche Geschenke für die Lieben. Es ist eine zufällige Auswahl von Büchern, die mir im Laufe des Jahres selber geschenkt oder zugeschickt worden sind, die ich selber aus Neugier gekauft oder von Verlagen als Rezensionsexemplare erbeten hatte, darunter nicht immer ganz aktuelle Ausgaben. Viele Inhalte kreisen um die gesellschaftlich-humane Einbettung von Wissenschaft und Forschung. Hat doch Jeder das Recht, „am wissenschaftlichen Fortschritt … teilzuhaben“ (Art. 27 der UN Menschenrechtscharta). Ich habe einige Werke ganz gelesen, einige in Passagen, andere habe ich auch nur wie beim Internet-Surfen gebrowst. Bei der Bewertung habe ich mich immer gefragt, ob die Werke uns Wege in die Zukunft bahnen, ingesamt verbunden mit meinem größtem Wohlwollen gegenüber allen Autorinnen, Autoren, Grafikern, Lektoren, Verlegern – sämtlichen Beiträgern, die in die Buchkunst eingebunden sind. Bücher sind die wunderbarste Erfindung der Menschheit, die günstigste und spannendste Reiseform, in und durch die abenteuerlichen Welten von Wissenschaft, Geist, Schöpfung. Gedeihliche, immer sichere und erkenntnisreiche Reisen ins und durch das Jahr 2019!

Yuval Noah Harari: 21 Lektionen für das 21. Jahrhundert. C.H. Beck, 2018. 24,95 Euro

Nach den fast ewigen Bestsellern „Eine kurze Geschichte der Menschheit“ und „Homo Deus“ jetzt der dritte, die „Ratschläge“ – in der sechsten Auflage in nur wenigen Monaten. Verdienen der Autor, das Buch das? In Homo Deus fand ich die Abrechnung mit dem Liberalismus überzeugend: das Fragezeichen hinter der Mantra „Freiheit über alles“, angesichts knapper werdender Ressourcen. An den Inhaltsrändern fand ich das Buch allerdings ausgefranst, zu viel Stoff, zu viele Aspekte, am Ende zu wenig Fokus. Bei den „Ratschlägen“ bin ich zwar erst bis Seite 192 vorgestoßen, tendiere aber zu ähnlichem Urteil. Mir gefallen bei diesem israelischen Historiker immer wieder die frischen Wendungen und Bilder, etwa der Hinweis, dass mit dem Siegeszug des Automobils Kutscher aufs Taxi umstiegen, der heutige Mensch angesichts gewaltiger technologischer Disruptionen eher an das Pferdeschicksal erinnert. Für die Vierbeiner gab’s keine Verwendung mehr, sie wanderten in die Abdeckerei. Der von den Technologien entmachtete und arbeitslose Mensch, wo landet der? Harari zeichnet ein bedrohliches Bild von einer sich verselbständigenden Technologie, über die bei allen demokratischen Gepflogenheiten kein Mensch je abgestimmt hat. Wie legitimiert ist sie? Inwieweit wird künstliche Intelligenz die Freiheit des Menschen unterwandern. Aber wieviel Freiheit hat er denn je gehabt. Harari verteufelt nicht, wägt gegeneinander ab, sagt vorher, dass selbststeuernde Autos jährlich eine Million Menschenleben retten. Am Ende des Tages, unseres Jahrhunderts: Schöne neue Welt, vielleicht doch schöner, als von Huxeley und anderen Apologeten prophezeit?

https://www.chbeck.de/harari-noah-21-lektionen-21-jahrhundert/product/24603105

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Scott Stossel: Wie sie die Seele lähmt und wie man sich befreien kann. C.H. Beck 2014. 24,95 Euro

Scott Stossel ist ein mutiger Tabubrecher. Der Journalist redet öffentlich über seine Ängste. Sein fulminantes Outing umrahmt er mit einer Kulturgeschichte der Angst, ihrer Psychologie und neuronalen Verankerung sowie Genese von Therapien. Der Autor blickt auf über 40 Jahre der Angst zurück. Jahrzehnte der Therapie. Zu Beginn auf Seite 7 resümiert er, was geholfen hat: „Nichts.“ Am Ende auf Seite 337 hofft er, dass die Beichte von Angst und Scham ihn ermächtigen möge, seine Ängste endlich zu bewältigen. Stossel ist Redakteur des renommierten „The Atlantic“ Magazins. Sein preisgekröntes Werk war ein New York Times Bestseller und gilt als Angst-Klassiker. Der US-Amerikaner ist so radikal offen, dass das Lesen manchmal fast wehtut. Wie er beim ersten Kuss sich fast erbrach und danach aus Scham jeden Kontakt abbrach. Wie ihn als Kind die Sorge quälte, von den Eltern verlassen zu werden. Wie er in Panik Redeauftritte abbrach und flüchtete. Wie er sich durch seine Trauung schwitzte und zitterte. Wie er in Flugzeugen bei kleinsten Turbulenzen fast ausrastet. Ausführlich diskutiert Stossel Therapien, Pharmazeutika, die genetische Komponente. In Zeiten zunehmender psychischer Beschwerden, von Stress, über Burnout, bis Depressionen und Ängsten ist dieses Buch nach wie vor ein wichtiger Beitrag zum Zeitgespräch über unsere schwächelnden Seelen. Dieses Angstbuch war und ist der wichtigste Teil von Stossels Therapie, sein Vermächtnis an die Welt. Eine seiner wichtigen Erkenntnisse daraus: Wo immer er über seine Plagegeister spricht, öffnen sich Menschen ihm gegenüber und berichten über ihre eigenen Ängste. Nachteile sind ihm durch seine Beichte nicht entstanden. Dies auch zum vielleicht hilfreichen Geleit der Deutschen Angst-Hilfe DASH e.V., die sich in diesem Jahr offiziell konstituierte und sich als Lobby für Angstbetroffene versteht, als ebenfalls wichtiger Tabubrecher gegenüber der von der Gesellschaft stigmatisierten Angst und Vorreiter einer offenen Angstkultur.*

https://www.amazon.de/Angst-Seele-l%C3%A4hmt-sich-befreien/dp/3406667619

Die lesenswerte Kurzfassung des Originaltitels „My Age of Anxiety“ findet sich in „The Atlantic“
https://www.theatlantic.com/magazine/archive/2014/01/surviving_anxiety/355741/

*) https://www.angstselbsthilfe.de/pressefruehstueck-06-07-2018/

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Jorge Cham, Daniel Whiteson: no idea. keine ahnung! Vorletzte Antworten auf die letzten Fragen des Universums. C. Bertelsmann 2018. 15 Euro

Man kann nicht umhin, es ihnen zuzugestehen, gerne auch ein wenig neidig: Nur Wissenschaftler des nordamerikanischen Kulturkreises schaffen es, über unsere ultimativen Fragen so unterhaltsam und humorvoll, gleichzeitig optisch so spannend zu erzählen, in diesem Fall der Physikprofessor Daniel Whiteson im Tandem mit Cartoonisten Jorge Cham. In Text, Form, Design ist dieses Buch so appetitlich wie ein leckerer Weihnachtsbraten, an jeder Stelle einfach zum Zugreifen. Nirgendwo akademische Hochstapelei, am Ende fühlen wir uns sehr klein mit unserem Wissen über unser Universum. Was vielleicht die beste Motivationsspritze ist, darüber mehr zu forschen, die Zukunft allen Untergangsszenarien zum Trotze noch voller Wunder steckt. So, mehr verrate ich nicht, außer: WANTED, der galaktische und subatomare Kolumbus, auf der Suche nach den wahren Naturmächten in dieser geheimnisvollsten aller Welten.

https://www.randomhouse.de/Paperback/No-idea-was-wir-noch-nicht-wissen/Jorge-Cham/C-Bertelsmann/e506752.rhd

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Harald Lesch, Klaus Kamphausen: Wenn nicht jetzt, wann dann? Handeln für eine Welt, in der wir leben wollen. Penguin 2018. 29 Euro

Und hier gleich das Gegenprogramm zu Cham/Whiteson: Der uns vertraute kosmische Welterklärer Harald Lesch hat die Bühne gewechselt. Wie eine Intelligenzbestie sich seit 150 Jahren anstrengt, ihre seit 150 000 Jahren währende Existenz abzuschaffen, intoniert er auf Seite 7 das Buchthema. Nach 300 Seiten des Herunterbrechens all unserer Umweltsünden, größtenteils bekannt, aber faktisch noch einmal unterfüttert, kommen dann im Finale Lösungsstrategien: Eine neue Philosophie fordert Ernst Ulrich von Weizsäcker, der seit Jahrzehnten unermüdliche Mahner, der an anderer Stelle eine „Neo-Aufklärung“ verlangte. Harald Lesch sagt er, ähnlich wie Harari, dass unsere abendländische Philosophie eine falsche sei, eine Freiheit der Starken, eine Unfreiheit der Schwachen. Nur, wie kommen wir aus der Nummer wieder raus? Auch das Generationenmanifest findet wenig Antworten darauf, außer vielleicht den Anstoß zu einem neuen Bildungskonzept, hin zu mehr Selbstbildung und Teamfähigkeit; und: So deutlich haben wir unsere Schuld noch nirgendwo gelesen wie bei der Forderung nach einer globalen Green Card: „Unser Egoismus und unsere Profitgier sind mitverantwortlich für die Flüchtlingsströme …“

https://www.randomhouse.de/Buch/Wenn-nicht-jetzt-wann-dann/Harald-Lesch/Penguin/e536529.rhd

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Dr. med. Susann Kräftner: Entzündet! Die stillen und gefährlichen Auslöser von Allergien, Übergewicht und Tumoren – und was wir dagegen tun können. Kneipp Verlag 2018. 18 Euro

Dieses erkenntnisreiche Buch über eine gesunde, ganzheitliche Lebensweise mit etlichen Praxistipps und Aha-Erlebnissen hat einen spannenden Subtext: Wie eine praktizierende Medizinerin von der Schulmedizin abfällt und neue Zugänge zum Gesundbleiben und Heilen entdeckt. Viele wissen es im Grunde, aber bei Susann Kräftner lässt sich das alles noch einmal nachlesen, anhand vieler Grafiken, Selbsttests, Hands-on Beispielen: Alles im Körper und seinen Regelkreisläufen hängt von allem ab, Mutter Natur ist eine üppig bestückte Apotheke, Selbstachtsamkeit ein wichtiger Arzt. Breiten Raum nimmt der innovative Beitrag der Autorin dazu ein, ihre immunstärkende Biest- oder Erstmilch zur Bekämpfung von Entzündungen. Buchdesign und das Durchbrechen von Buchstabenwüsten sind ansprechend, die rote Schrift anstrengend, besonders bei nichtoptimalen Lichtverhältnissen. Seit der Lektüre praktiziere ich die Kräftner-Übung: Mir die Strümpfe auf einem Bein balancierend anzuziehen – für Menschen ab einem gewissen Alter und allfälligen Versteifungserscheinungen ein tolles Erfolgserlebnis, gleich am Morgen!

https://www.amazon.de/Entz%C3%BCndet-gef%C3%A4hrlichen-%C3%9Cbergewicht-Erkenntnis-Biestmilch/dp/3708807383

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Arno Boes: 111 Gründe, das RUDERN zu lieben. Schwarzkopf & Schwarzkopf 2018. 9,99 Euro

 Und hier gleich noch ein Beitrag zu Medizin und Gesundheit. Man muss kein Ruder-Nerd sein, um in diesem Buch mit Spaß und großem Kenntnisgewinn zu schmökern. Der Autor macht es einem mit 111 Kapitelchen sehr leicht. Für Arno Boes, den Ruderjournalisten, ist der Sport eher eine Lebens- und Kulturform auf höchstem Niveau. Mit vielen Aspekten: einer nie zu perfektionierenden Kunst der Körperbeherrschung, einem einzigartig-analogen Gemeinschaftserlebnis, auch für die Sportwissenschaften ein reicher Quell der Erkenntnis. Desgleichen in sozial-medizinischer Hinsicht, wie etwa Rudern gegen Krebs, das der Tumorerkrankung das Stigma genommen hat. Die Historie des Ruderns, bis in die Kinderstube des Abendlandes, ist eine faszinierende, was mir fehlt: Von einem so kenntnisreichen Autor hätte ich mir mehr Aufschluss darüber gewünscht, wie die Nazis den damaligen Elitesport für sich umfunktioniert – und die Rudersportler dies zugelassen haben. Wäre das nicht eine historische Dissertationsarbeit wert, gerade wo die Neue Rechte Deutschlands dunkelste Zeit als „Fliegenschiss der Geschichte“ populistisch, unwissenschaftlich und in bestem Fake-Modus derart verharmlost?

https://www.schwarzkopf-verlag.net/store/p1083/111_GR%C3%9CNDE%2C_DAS_RUDERN_ZU_LIEBEN.html

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Detlef Münch: Die militärischen und politischen Prophezeiungen von Hans Dominik für das 21. Jahrhundert. Synergen 2018. 29,80 Euro

Hans Dominik war dreierlei: Der deutsche Science Fiction Autor des 20. Jahrhunderts mit Millionenauflagen, ein frühes TELI Mitglied, und vom Krieg umtrieben. Seine Romane kreisen um Waffen und Eroberungszüge. So ein wenig wie die Ballerfilme, auf die man beim Herumzappen im Fernseher stößt, in Blutströmen gebadet, von emotionslosen Akteuren vorangetrieben. Abschreckend und sensationalistisch, insgesamt sehr nachdenklich stimmend: Wenn das die Mentalität der Jahrhundertwende und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war, ein militanter Nationalismus, müssen wir uns nicht wundern, dass wir dafür eine fast apokalyptische Ernte eingefahren haben. Und hatte der Autor wirklich die intellektuelle Kraft, das 21. Jahrhundert mit seinen Konfrontationen und politischen Verwerfungen vorherzusagen? Detlef Münch, ein intimer Kenner, Analyst und Interpret des Autors, glaubt Trump, Kim und Erdogan in einigen von Dominiks Figuren wiederzuentdecken. Tatsächlich erinnern einige der Zeichnungen an 9/11 und die Konflikte unserer Tage. Sind wir in hundert Jahren wirklich nicht klüger geworden?

https://www.amazon.de/milit%C3%A4rischen-politischen-Prophezeiungen-Hans-Dominik/dp/3946366252

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Johannes Saltzwedel (Hg.): Die Aufklärung. Das Drama der Vernunft vom 18. Jahrhundert bis heute. DVA 2017. 20 Euro

Der Fortfall des Buchstaben „r“ hat eine der größten geistigen Revolutionen in der Menschheit ausgelöst. Im „Cogitor, ergo sum“ strichen die Aufklärer das „r“ und aus dem „Ich werde gedacht, also bin ich“ wurde „Ich denke, also bin ich“. Das brachte unsere moderne Welt hervor und die Freiheit, mit der ich in dieser TELI Weihnachtskolumne die Bücher von geistigen Autoritäten rezensiere. Das hätten sich vor 250 Jahren nur wenige gefallen lassen, denn „Preßfreiheit“ wurde besonders in Preußen als „Preßfrechheit“ interpretiert und an den Pranger gestellt. Von den Zielen der Aufklärung, nämlich religiöse Toleranz, Bildung für möglichst alle, globale Humanität, davon sind wir heute vermutlich weiter entfernt denn je. Und auf Sätze im barocken Bandwurmmuster, darauf stoßen wir auch noch massenweise, selbst in renommierten Medien. Aufklärung ist und bleibt ein immerwährender Prozess, die Selbstermächtigung kritischer Denker, was aber bereits in der Französischen Revolutionen und vielen weiteren Revolutionen seither scheiterte. Manche Oligarchen und Autokraten waren humaner als so mancher Revolutionär, der im vermeintlichen Auftrag des Volkes und zu dessen Wohle auf die Barrikaden ging. Ein sehr schön lesbares Buch mit kurzen und knackigen Beiträgen über die lange Liste der europäischen Aufklärer und ihrem Ringen, darunter auch Knigge und Landschaftsarchitekten, die aufgeklärte Naturgärten gestalteten. Nur schade, dass auch in diesem gelungenen Buch – wie in vielen anderen der gelesenen – der Fehlerteufel die Lesefreude immer wieder stört. Sorgfältiges Lektorieren sah einmal anders aus.

https://www.randomhouse.de/Buch/Die-Aufklaerung/Johannes-Saltzwedel/DVA-Sachbuch/e520752.rhd

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P.J. Blumenthal: Kaspar Hausers Geschwister. Auf der Suche nach dem wilden Menschen. Mit einem Geleitwort von Elfriede Jelinek. Franz Steiner Verlag, 2018, erweiterte Neuausgabe. 24 Euro

Der Autor, ein München-Schwabinger aus der New Yorker Bronx*, hat dieses Thema 40 Jahre lang recherchiert und in seinen diversen Veröffentlichungen dazu immer wieder neu fokussiert. Mit Fug und Recht können wir behaupten, dass er der absolute Experte zu diesem Thema ist, das uns seit der Aufklärung umtreibt. Ist der Mensch von Natur aus ein guter – und würde er ein Guter, ja Besserer werden, wenn wir ihn in der Natur aufwachsen ließen? Hier das Fazit eines Gesprächs mit PJ Blumenthal: „Wir haben keine Heimat in der Tierwelt. Für Wölfe ist der Säugling nur eine Mahlzeit. Und die Kinder, die wild in der Natur aufgewachsen sind, blieben Seelenruinen, fürs ganze Leben. Aus Tieren wird nie ein Mensch, gleichwohl aus verwahrlosten Menschen leichter ein Tier“, noch kürzer: „Wir sind zum Humanismus verurteilt. Ohne einander können wir nicht auskommen. Miteinander vielleicht auch nicht – aber das ist ein anderes Thema.“

https://www.amazon.de/Kaspar-Hausers-Geschwister-wilden-Menschen/dp/351511646X

Das gesamte Interview hier auf den TELI Seiten

https://www.teli.de/wir-sind-zum-humanismus-verurteilt/

*) Ein weiterer Schwerpunkt des studierten Altphilologen ist der Themenkanon rund um die Sprache. Im Sprachbloggeur arbeitet sich der geborene US-Amerikaner an seiner Wahlsprache Deutsch ab, humorvoll, selbstironisch und mit vielen Aha-Erlebnissen für Muttersprachler: http://sprachbloggeur.de/

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Wolfgang Sander: Bildung. Ein kulturelles Erbe für die Weltgesellschaft. Wochenschau Verlag 2018. 19,90 Euro

Ein ziemlich wissenschaftliches Buch mit viel Fachsprache, gleichwohl lehrreich, warum es so große kulturell-religiöse Unterschiede bei den Bildungskonzepten gibt. Für Sokrates ist das Lehren eine Art „Hebammenkunst‘“, die Schüler zum selbständigen Fragen und Denken bringt. Nicht reproduzierend, sondern reflexiv, mit kritischem Prüfen. Was zwei Jahrtausende später noch den Humboldtschen Bildungskanon befruchtete. Im Judentum kreiste Bildung um die Auslegung der religiösen Schriften, Thora und Talmud. Das erfolgte diskursiv und fordert Schüler zu unterschiedlichen Sichtweisen und eigener Urteilsbildung auf. Mohammed sah den Erwerb von Wissen und Bildung für Männer und Frauen als Pflicht an. „Wer sich bemüht, Wissen zu erlangen, dem wird Gott den Weg zum Paradies leicht machen.“ Gleichwohl konservative Religionsvertreter die Einführung der Druckerpresse im Islam um drei Jahrhunderte blockierten, weil sie um den Verlust des Monopols ihrer Schriftgelehrsamkeit fürchteten. Das war ein Grund, weshalb der Islam bei Kultur und Bildung in Rückstand geriet, den er bis heute nicht wieder wettgemacht hat, auch Grund von Extremismus ist. Bei Konfuzius sollte Bildung allen zugänglich gemacht werden, nicht nur dem Adel. Der Erwerb von Wissen war sehr leistungsorientiert, und zum Teil reproduktiv – bis heute eine Konstante im asiatischen Bildungswesen. Im Hinduismus und Buddhismus ist Bildung in den Kreislauf des Werdens und Vergehens eingebunden und Teil davon.

http://www.wochenschau-verlag.de/studium-wissenschaft/bildung-2393.html

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Brigitte Röthlein: Pioniere gestalten die Welt der Technik. 150 Jahre Forschung an der Technischen Universität München. TUM University Press 2018. 29 Euro

Die Technische Universität München feierte in 2018 ihren 150. Geburtstag. Die Wissenschaftsjournalistin Brigitte Röthlein stellt in einem kapitalen Werk die profiliertesten Forscherpersönlichkeiten der TUM vor. Sie verraten viel über die Höhen und Tiefen der Wissenschaft, Motivationen, Verstrickungen im Nationalsozialismus, Siegeswege akademischer Außenseiter wie den des Brainlab-Gründers Stefan Vilsmeier, Herausforderungen für die Zukunft wie gleiche Chancen für Frauen.

https://www.amazon.de/Pioniere-gestalten-die-Welt-Technik/dp/3958840035

Link zur ausführlichen Besprechung auf den TELI Seiten ->
https://www.teli.de/150-jahre-tum-150-jahre-innovation-aus-bayern/

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Peter Finke: Lob der Laien. Eine Ermunterung zum Selberforschen. oekom 2018. 20 Euro

Wir sind die Wissenschaftler! Der renommierte Wissenschaftstheoretiker Peter Finke (Uni Bielefeld) nimmt in seinem neuesten Buch „Lob der Laien“ (oekom) das wachsende Unwohlsein der Menschen in unserer Zivilisation und Demokratie ins Visier: Die Wissenschaft, vor 100 Jahren Hoffnungsträger für eine bessere Welt, stürzt uns mittlerweile in Angst und Verzweiflung. Finke zeichnet ein stringentes Bild von einer Alternative, Ergänzung, Korrektiv: Die von Laien vorangetriebene Forschung. Bürgerwissenschaft oder Citizen Science vermeidet er demonstrativ, gleichwohl er selber wegweisende Bücher dazu geschrieben hat, er in Deutschland als Wegbereiter der Bürgerwissenschaft gilt. Nein, der Begriff und was dahinter steht ist nach seinem Dafürhalten verbrannt, weil Citizen Science von der Wissenschaft gekapert und umfunktioniert worden ist, in ein Rädchen traditioneller akademischer Wissenschaft, ehrenamtlich und gratis dazu. MUST-Read für alle kritischen Bürgerinnen und Bürger, auf der Suche nach Artikulationshilfen für ihr Unbehaust-Sein in unserer Techno-Zivilisation und Auswegen daraus.

https://www.oekom.de/nc/buecher/vorschau/buch/lob-der-laien.html

Siehe auch Amazon Reviews: Wir sind die Wissenschaftler!

https://www.amazon.de/Lob-Laien-Eine-Ermunterung-Selberforschen/dp/3962380620

Diskussion zum Buch, Inhalt und Thesen bei der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler VDW

https://vdw-ev.de/portfolio/zwei-seiten-einer-medaille-das-lob-der-laien-und-der-tadel-fuer-die-profis/?portfolioCats=191

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Andrea Böhm: Das Ende der westlichen Weltordnung. Eine Erkundung auf vier Kontinenten. Pantheon 2017. 17 Euro

Dieses Sachbuch der ehemaligen taz- und Zeit-Redakteurin liest sich streckenweise so spannend wie ein Krimi. Das hat auch mit ihrem Narrativ zu tun. Das ist eine alte Weltkarte aus dem Jahre 1450. Auf dieser reist sie, im ständigen imaginären Dialog mit dem Gestalter dieses Kartenwerks, in die Zentren der damaligen Welt. Somalia, Bagdad, Canton, einst blühende Landschaften der islamischen und chinesischen Kultur, später unterworfen von europäischen Imperialismen, Kolonialismen, Ausbeutung – heute nach den jüngsten Kriegen zum Teil in Ruinen. China dagegen geht seinen eigenen Weg, Turbokapitalismus, ist ein Einwanderungsland für tüchtige schwarze Muslime aus Afrika. Abendländische Ordnung und Werte, Machtpolitik und moralische Heuchelei, haben sich für diese Länder nicht bewährt. Wir kriegen die Quittung. Das Reich der Mitte geht seinen eigenen Weg und entfaltet sich zu neuer Großmacht. Grenzenloses Wachstum, Konsum, Megabauten sind aber kein vielversprechender Gegenentwurf zum abendländischen Modell.

https://www.buecher.de/shop/fachbuecher/das-ende-der-westlichen-weltordnung/boehm-andrea/products_products/detail/prod_id/48070158/

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Klaus Burmeister, Alexander Fink, Beate Schulz-Montag, Karlheinz Steinmüller: Deutschland neu denken. Acht Szenarien für unsere Zukunft. oekom 2018. 24 Euro

Von einem Autorenteam mit so beeindruckenden Lebensläufen hätte ich noch mutigere Zukunftsentwürfe erwartet. So bleibt vieles wie etwa das Grundeinkommen für alle, so wichtig die Diskussion, vor allem Umsetzung sind, ein geistiger Ladenhüter. Spannend und höchsten lesenswert sind die eingestreuten Narrative, mit denen die zum Teil sehr fachlichen Kapitel unterlegt sind, beispielsweise der Brief an die Enkelin oder das trickreiche Bewerbungsgespräch, das den Bewerber bei seinem Ehrgeiz packt, nicht bei den materiellen Perspektiven, oder den supercoolen Security-Mann. Im Kapitel 9, dem Zukunftsideenbündel, ist die „Stillstandsfolgenabschätzung“ ein frischer Terminus. Das sollte aber nicht nur auf Technologie angewendet werden, meine Ergänzung, sondern auf unser gesamtes gesellschaftliches und staatliches System, das seit Jahren im Sande mahlt. Bei der Bildung machen sich die Autoren nach skandinavischem Vorbild für „Projekte statt Fächer“ stark, Sozialkompetenz statt Latein, projektbezogenes Lernen und Abschaffung der Schulfächer. Nur wie? – wenn Deutschland nach wie vor im Ausland wie auch bei Einwanderern mit einem zutiefst undemokratischen Schulsystem auffällt, das Menschen mit zarten zehn Lebensjahren in die höheren und tieferen Stratosphären der Gesellschaft einsortiert.

https://www.oekom.de/nc/buecher/vorschau/buch/deutschland-neu-denken.html

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Bruno Latour: Das terrestrische Manifest. Edition Suhrkamp 2018. 14 Euro

Der Autor ist Programm: Mit einem Wortspiel setzte er einst die Vision einer Mitbestimmung von Bürgern in der Forschungspolitik in die Welt: Without Representation no Innovation. Klasse! In dieser seiner neuesten Publikation wirft der renommierte französische Wissenschaftsphilosoph viele Bälle in die Luft, doch so ein richtiges Ballspiel will sich daraus nicht entwickeln. Es geht um unsere Umweltsünden, unsere demokratischen Defizite und wie wir aus dem Malheur wieder rauskommen. „Klimaquietist“ zu sein ist keine Option. Erst im Abspann wird der Autor deutlich. Darin geht es um all die Verbrechen Europas an den Völkern der Welt, durch Ausrottung und Aufzwingen der eigenen Lebensform, Umspannen des Globus mit einer ausbeuterischen Wirtschaft. Nach zwei Selbstmordversuchen (Weltkriege) „glaubte es, der Geschichte entkommen zu können, indem es unter dem Schirm Amerikas Schutz suchte. Dieser gleichermaßen moralische wie atomare Schirm wurde zusammengefaltet. Jetzt steht Europa allein und schutzlos da.“ Das sei, so Latour, seine „zweite Chance“. Wo bleibt der Aufbruch?

https://www.suhrkamp.de/buecher/das_terrestrische_manifest-bruno_latour_7362.html

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Jascha Rohr: In unserer Macht. Aufbruch in die kollaborative Demokratie. Think oya. 2013. 10 Euro

Nein, dieses Büchlein ist nicht veraltet. Angesichts der Krise unserer parlamentarisch-repräsentativen Demokratie ist es sogar aktueller als vor fünf Jahren. Es kreist um Mitgestaltung und Partizipation an unserem Gemeinwohl und setzt in Szene die folgenden Begriffe: co-kreativ, co-intelligent, co-evolutionär. Sie pflastern den Weg der Transformation hin zu couragierten Antworten und Lösungen auf die Herausforderungen unserer Zivilisation. Den Gründungsaufruf zu einer Bundeswerkstatt ließe sich ruhig verdichten, erweitern, überhöhen zu einer neuen Kammer, in der sich all die Akteure der Kollaboration versammeln und wie der Bundesrat zu Partnern des Parlaments werden, nur von unten, von den Graswurzeln und der Zivilgesellschaft gespeist. Damit der Pudding, mit dem der Soziologe Ulrich Beck die diffuse Zivilgesellschaft einmal verglich, endlich mal im demokratischen Gefüge dieses Landes festgenagelt wird.

https://think-oya.de/buch/in-unserer-macht.html

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William Grassie: Applied Big History. A Guide for Entrepreneurs, Investors and other Living Things. Metanexus Imprints, New York 2018. 12,99 US$

Der New Yorker Wissenschaftspublizist William Grassie spannt in einem intellektuellen Parforceritt einen atemberaubenden Bogen, vom Urknall bis zum Erlöschen unseres Zentralgestirns, die Sonne. Die Gesetze dieser Evolution überträgt Grassie auf die des Wirtschaftens und der Finanzwelt. Das ist steil, auch gut geerdet. Er findet einleuchtende Beispiele, wie etwa in Fortpflanzungsstrategien der Natur, viele Nachkommen (Kapital breit zu streuen) – oder Ein-Kind-Familie (alles Geld auf eine Karte setzen); oder wie der Markt als  halbdurchlässige Zellmembran funktioniert. Stimmt Vox Populi, dass der Investor ein Parasit ist – oder sind wir nicht alle Parasiten, Nutznießer der Energie der Natur? Gefangen in ihrer schier unauflösbaren Dialektik, zum einen im brutalen Wettstreit mit anderen zu stehen, in dem der Mächtigere den weniger Mächtigen frisst? Gleichzeitig in der Zwangsjacke zur Kooperation steckend! Der Autor, mit Europa und dem Rest der Welt sehr gut vertraut, bürstet uns gegen den Strich.

https://www.amazon.de/gp/customer-reviews/RRP0OK2XCTAU2/ref=cm_cr_srp_d_rvw_ttl?ie=UTF8&ASIN=171985307X

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Florian Freistetter: Hawking in der Nussschale. Der Kosmos des großen Physikers. Hanser 2018. 14.00 Euro

Der Autor (Science Busters) ist auf deutschen Bühnen als Spaßvogel bekannt. Auch sein Buch über Newton, „Wie ein Arschloch das Universum neu erfand“, ist zum Schenkelklopfen. Bei seinem neuen Buch über Hawking gerinnt sein Humor zu einer festen Nussschale. Ich gestehe, ich stehe mit Respekt vor beiden, vorm großen Kosmologen wie vorm schriftstellernden Aufklärer über dessen Erkenntnisse. Vor einem Satz wie diesen salutiere ich: „Bis ein typisches Schwarzes Loch verschwunden ist, dauert es knapp 10 hoch 68 Jahre (hundert Undezillionen Jahre …). Das ist so … unvorstellbar lang, dass man die bisherige Lebensdauer des Universums von 13,8 Milliarden Jahren getrost als Wimpernschlag beschreiben kann.“ Die Nuss hinter allem erahne ich, zwischen Singularität und Gravitationswellen, Hawking-Strahlung und Informationsparadoxien, doch „leichtfüßig und unterhaltsam“ (Buchdeckel) ist der Ausflug durch Raum und Zeit bis vor dem Urknall leider nicht, jedenfalls nicht für mich.

https://www.hanser-literaturverlage.de/buch/hawking-in-der-nussschale/978-3-446-26245-4/

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Gunda Krauss: Gunda unterwegs. Mehr als ein Reisebericht. BoD 2018. 20 Euro

Dieses Buch schneite mir noch kurz vor Weihnachten ins Haus und bedarf der Würdigung. Der große Joachim Fuchsberger hinterließ uns die Erkenntnis: Altwerden ist nichts für Feiglinge. Oft zitiert, dennoch falsch. Gunda Krauss kehrt den Spruch um in: Altwerden eröffnet eine Schatzkammer neuer Gestaltungsmöglichkeiten und frisches Lebensglück. Die im Frühjahr acht Lebensjahrzehnte Vollendende hat nach Hüft-OPs mit Komplikationen Deutschland auf dem Dreirad durchquert und wurde damit zur Ikone der Seniorenmobilität. Alterstrübsal und Depressionen, mit denen sie sich herumplagte, streckt sie keck die Zunge entgegen durch politisches Engagement für die Grünen im Münchner Stadtteilparlament (Bezirksausschuss), das sie mit ihren Ideen auf Trab hält. Und demnächst zieht Gunda, zu ihrem 80., um in ein genossenschaftliches Drei-Generationen-Wohnmodell, um dort neue soziale Formen des Zusammenlebens auszuprobieren. Das hübsche, gut lesbare und im Selbstverlag durch Crowdfunding erschienene Buch ist ein Ausdruck ihrer Vitalität – gegen die Gespenster des Alters. Ihr Antrieb? Der Einsatz für ein demokratisches, wertschätzendes Miteinander auf Augenhöhe, ein Vermächtnis ihrer vor zwei Jahren verstorbenen Mentorin Hildegard Hamm-Brücher, der „Grand Lady“ der deutschen Demokratie. Sowie das leidvolle Abarbeiten an einem anderen Vermächtnis, das der Mutter, die ihre Tochter an der kurzen Leine hielt und eine Minderwertigkeit einzureden versuchte. Aus dieser Spannung sind eine wunderbare Energie und Ausstrahlung entstanden. Die sind bei Gundas Vorträgen und Lesungen mit den Händen fast zu greifen. Klingt kitschig, ist aber so: geradezu THERAPEUTISCH, wirksamer als jeder WISSENSCHAFTSRATGEBER für die Ü-60er. Und deshalb gehört „Gunda unterwegs“ genau hierher. CHAPEAU, Madame Krauss!

https://www.bod.de/buchshop/gunda-unterwegs-gunda-krauss-9783748134657

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