Zuhause sieht Dich niemand weinen

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Report vom TELI-Jour fixe über „Die Zukunft der Arbeit: Produktivität, Kreativität & Zeitmanagement nach Corona“

Am 30. November 2021 hatte die TELI zu einer Podiumsdiskussion über „Die Zukunft der Arbeit: Produktivität, Kreativität & Zeitmanagement nach Corona“ in den Münchner PresseClub geladen. Indes: Noch während der Vorbereitungen hatte sich das Covid-19-Pandemie-Geschehen in der Bayerischen Landeshauptstadt so erheblich verschärft, dass die Durchführung einer Präsenz-Veranstaltung gegenüber Referenten, Besuchern oder Organisatoren nicht länger zu rechtfertigen gewesen wäre. Daher konnte der TELI-Jour fixe im November 2021 nur noch als reine Online-Veranstaltung im Format eines Webinars stattfinden – und das wird wohl eine Weile so bleiben.

Der Zuspruch war dennoch beträchtlich: Rund 300 Personen hatten sich zum Webinar angemeldet, 60 davon verfolgten online am virtuellen Podium, was die vier Panelisten, moderiert von TELI-Vorstandsmitglied Peter Knoll, aus ihrer jeweiligen Erfahrung über die Zukunft der Arbeit zu sagen hatten:

  • Irene Hobbach, die in München beim Großunternehmen Bosch Siemens Haushaltsgeräte (BSH, 60.000 Mitarbeiter weltweit) als systemischer Business Coach, als Gewerkschafterin und Betriebsrätin hauptamtlich für Mitarbeitergesundheit und Arbeitszufriedenheit zuständig ist.
  • Prof. Dr. Fritz Böhle, Wissenschaftler am Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung (ISF) in München, forscht als Professor für Soziologie an Themen wie „Neue Anforderungen an den Umgang mit Unsicherheit und Komplexität“, „Kooperation und Selbstorganisation“, „Risiken der gesellschaftlichen Rationalisierung“ und „Verwissenschaftlichung“.
  • Jörg Rieger Espíndola, der seine langjährige Erfahrung als Journalist, Buchautor, Trainer und Marketingleiter für Corel in Deutschland Österreich und der Schweiz einbrachte. Daher steht er der Technik sowie deren Nutzerinnen und Nutzern schon immer nahe.
  • Martin Gerhardts, Werbetechniker und Fachautor für diverse Print- und Online-Formate, langjähriges Vorstandsmitglied des Vereins Signforum24 sowie Initiator und Impulsgeber der Mitmachwerkstätten bei Werbetechnikmessen, vervollständigte das Panel.

Die Impulsvorträge der vier Mitwirkenden stehen hier zum Abruf bereit.

Links zu den freigegebenen Präsentationen der Impulsvorträgen finden sich am Ende dieses Artikels.

Alle Webinar-Teilnehmern konnten sich während und nach den Vorträgen über den Moderator mit Fragen an die Mitwirkenden wenden. Die teilweise lebhaft und mithin kontrovers geführte Diskussion im Anschluss war indes nur live zu verfolgen, ein Auszug:

Steiniger Weg in die digitale Arbeitswelt

„Obwohl heiß diskutiert wurde, war sich die Expertenrunde am Ende einig: Was zählt, ist die Zufriedenheit mit der eigenen Arbeit – und die kann im Home Office wie auch im Büro gefunden werden.“ (Jörg Rieger Espíndola, Irene Hobbach, Peter Knoll, Prof. Dr. Fritz Böhle, Martin Gerhardts)

Am Thema „Die Zukunft der Arbeit: Produktivität, Kreativität & Zeitmanagement nach Corona“ scheiden sich die Geister mithin diametral. Im Kern greift es einen gesellschaftlichen Umbruch auf, der die Arbeitswelt nicht erst seit den ersten flächendeckenden Home-Office-Erfahrungen im Jahr 2020 erfasst hat. Haben Online-Geübte wie Rieger Espíndola („Mein Arbeitsplatz ist mein Notebook“) schon lange Erfahrungen mit der Einzel- und Team-Arbeit via Internet und kein Problem damit, dass sich Arbeits- und Privatsphäre immer mehr durchdringen, sehen andere den Wandel kritisch: Anstelle positiver Effekte für Angestellte führe die die Arbeit im Home-Office zu sozialer Ungleichheit, so Professor Böhle, denn nachdem die Arbeitswelt den zweihundert Jahren ihrer Entwicklung eigenständige Bereiche hervorgebracht habe, finde jetzt eine Vermischung mit persönlichen Lebensbereichen statt. Davon betroffen seien laut Frau Hobbach ebenso die Unternehmen, denn die Digitalisierung verändere die Art der Wertschöpfung schlechthin: „Die Globalisierung ist jetzt näher am Einzelnen“, sagt sie und warnt: „Das wird auch nach der Pandemie nicht mehr anders.“ Als Beleg führt sie an, dass etwa der Metallbereich Büroflächen zurückbaue; eine Reduktion von 60 bis 70 Prozent bedeute immer Arbeitsplatz-Teilung. Der persönliche Schreibtisch sei ein Auslaufmodell. Aber: „Die meisten Arbeitnehmer wollen hybrid arbeiten“, so Hobbach, maximal zwei bis drei Tage die Woche im Team in der Firma, aber „es gibt viele Leute, die nicht zu sehen und zu hören sind“. Schon meldeten die Krankenkassen eine Zunahme der Depressionsleiden.

Professor Böhle sieht in der fortschreitenden Digitalisierung sogar eine Gefahr, „weil man Menschen über-steuern kann“. Die Digitalisierung erzwinge eine Anpassung an das Tool, das die Arbeitsweise vorschreibe, und diese Anpassung sei schwer. Rieger Espíndola, Marketing-Manager beim kanadischen Software- und Tools-Hersteller Corel Corporation (Corel Draw, Parallels, Mindmanager), sieht das freilich anders; er kann Online-Arbeit nur Positives abgewinnen: „Wir stellen Software-Tools […] bereit, mit denen sich Remote-Projekte realisieren und ganze Firmen digitalisieren lassen“, und er freut sich, dass seine Firma rechtzeitig zum Ausbruch der Corona-Pandemie ein weltbekanntes Grafik-Programm teamfähig bekommen habe. Doch auch Rieger Espíndola weiß, dass sich die Zusammenarbeit am runden Tisch von der im Home-Office unterscheidet. Für ihn sei die Umstellung aber deshalb kein Problem, „weil´s vorher schon ging“, räumt aber ein, dass große Einblicke noch fehlen würden.

Werbetechniker Martin Gerhardts sieht die Entwicklung weniger gelassen: „Es ändert sich viel sehr schnell“, klagt er. „Corona zwingt uns dazu, dass die schon lange existierenden Tools zum Tragen kommen.“ Das führe aber einem neuen Problem: „Für die Beherrschung der Tools geht mehr Zeit drauf als fürs eigentliche Handwerk.“ Die Besprechung auf der Baustelle gebe es so nicht mehr, und online könne man sich nicht selektiv ausblenden, weshalb viel Zeit mit Warten vergehe. „Meine Generation, die von der Intuition lebt, tut sich da schwer.“ Gerhardts ist nicht generell gegen online, mahnt aber: „Wir müssen die gleiche Sprache sprechen“. Das Problem liege in der Vielzahl der Kommunikations-Tools, seien es Telefon-, E-Mail-, Messenger- oder Videokonferenz-Programme, von denen für ihn Messenger wie WhatsApp nicht in Frage kämen, weil „ich selbst bestimmen will, wann ich kommuniziere“.

Noch höhere Probleme türmen sich im Arbeitsrecht auf, wenn es nicht nur um die Selbstbestimmung über die Kommunikation geht, sondern darum, dass ein Arbeitgeber quasi ins Home-Office hineinsehen könne. Hobbach sieht den Konflikt zwischen Privatsphäre und Verschwiegenheit problematisch und gibt zu bedenken, dass dann, wenn der Anteil der Heimarbeit über 50 Prozent steige, im Home-Office die gleichen arbeitsrechtlichen Vorgaben gelten würden wie in einer Firma.

Und auch Firmen sähen laut Hobbach ungelöste Probleme auf sich zukommen: So dürften von einem Heimarbeitsplatz keine Auslandsverträge abgeschlossen werden; für einen Heimarbeitsplatz gelten, so Hobbach, „grundsätzlich die gleichen ergonomischen Vorgaben wie im Büro“, und „wenn die Firma dann schon den Schreibtisch stellt, warum dann nicht gleich das Arbeitszimmer?“ Selbst das Mobiltelefon als Arbeitsgerät ist betroffen. Hobbach: „Ein Arbeitgeber darf in begründeten Fällen [sogar] ein Diensthandy auswerten.“

Der Großteil der KMU ist improvisiert unterwegs

Regeln über Regeln, aber gelten sie für alle Arbeitsbereiche? Nein. Rieger Espíndola sieht einen Unterschied zwischen Großunternehmen, bei denen gute Regelungen für die Trennung privat-geschäftlich existieren. „Bei kleinen Unternehmen fehlen oft solche Regeln.“ Aber das sei schon vor Pandemie so gewesen. „Der Großteil der KMU ist improvisiert unterwegs“.

Dass damit die Datenschutzgrundverordnung ebenfalls gemeint sein könne, gab Moderator Knoll zu bedenken, denn wer Datenschutz ernst meine, brauche einen Datenschutzbeauftragten, und fädelte damit einen weiteren Diskussionsfaden ein, den die Diskutierenden zu einem Gespinst aus Selbstdisziplin, Entgrenzung und Eigenverantwortung verwoben.

Hobbach: „Dual Use bedarf der Eigenverantwortung gegenüber dem Arbeitgeber und gegenüber sich selbst.“

Böhle: „Das Phänomen heißt Entgrenzung. Die Trennung zwischen privat und geschäftlich unterliegt einer Erosion“, weshalb die Anforderungen an den Einzelnen stiegen, selbst Grenzen ziehen zu müssen. Informelle Prozesse wie der Rauch-Plausch auf dem Firmenflur würden bei der Digitalisierung verschwinden und im Home-Office durch Küchentreffen mit dem Lebenspartner ersetzt. Aber: „Ist das Arbeit? Ist nur noch das Arbeit, wenn ich am PC sitze?“

Mit Zeiterfassungsprogrammen sei nicht jedem gedient, gab Gerhardts zu bedenken. Der klassische Arbeitstag von 8:00 Uhr morgens bis 16:00 Uhr nachmittags sei im Home-Office nicht zu erreichen. Wie solle man da in Zukunft Arbeit delegieren können?

Laut Espíndola sei „gewaltige Selbstdisziplin erforderlich, denn die Versuchung, eingehende Nachrichten zu öffnen oder zu beantworten, ist sehr groß!“

Hobbach will deshalb jeden motivieren, sich selbst klare Grenzen zu setzen, warnt aber: „Die Erwartung, dass sich Leute anpassen, ist so schnell nicht zu erfüllen.“ Es komme zum „Digital Drifting“, auch bekannt als Konzentrationsstörungen, zur Abnahme von Sehkraft wegen der Arbeit an mithin zu kleinen Bildschirmen und zu einem Mangel an handschriftlichen Notizen.

Professor Böhle räumt ein, dass es zwar wichtig sei, sich selber Grenzen zu setzen, hält aber die Erwartung sofortiger Antworten für falsch. „Vernetzungsstrukturen bedürfen von beiden Seiten neuer Grenzziehungen“ und meint damit auch die Arbeitgeber: „Manager sind da keine Vorbilder.“ Zwar gebe es am Arbeitsplatz, etwa im Einzelhandel, durchaus Möglichkeiten zum vorübergehenden „Rückzug“ von der Arbeit. „Aber der Rückzug nachhause lässt das verschwinden.“ Zum scheinbaren Zwang zur permanenten Erreichbarkeit fragt er: „Wann ist mal Schluss mit Sozialkontakten und Vernetzung?“

Im Verwaltungsbereich, so Moderator Knoll, seien Ansprechzeiten klar geregelt, worauf Hobbach mit ihrer Erfahrung aus der Arbeitswelt der Großkonzerne erwidert: „Auch für Home-Office gibt es eingephaste Pausen!“ Die Arbeitszeiten seien aber gar nicht das Problem! „Zuhause im Home-Office bekomme ich aber auch das Gift ab, das ´rüberkommt.“ Dort aber fehlten die tröstenden Kollegen:

„Zuhause sieht Dich niemand weinen.“

Weiter Probleme bereitet die Leistungsbewertung im Home-Office. Hobbach glaubt, dass für Leistung lediglich der Output bewertet werden müsse, weiß aber, dass Führungskräfte Nicht-Erreichbarkeit negativ bewerteten. Und sie weist auf ein weiteres Dilemma der Digitalisierung der Arbeitswelt hin: „Im IT-Bereich gibt es einen Unterschied zwischen fachlicher und disziplinarischer Führung!“ Tätigkeiten, die sich der Messbarkeit entzögen, würden zum zentralen Problem, so Böhle. Das sei aus dem Handwerk bekannt: Wenn informelle Fähigkeiten nicht dokumentiert würden, würden sie unterbleiben.

„Die Kehrseite der Digitalisierung ist der Verlust informeller Fähigkeiten,
die für den Ablauf von Prozessen essenziell sind.“

Rieger Espíndola hingegen verweist auf Online-Organisations-Tools: „Da wird mitdokumentiert, auch wenn Fünf-Minuten-Kaffeepausen nicht erfasst sind“, räumt aber ein: „Digitale Meetings versemmeln eine Unmenge an Arbeitszeit.“

Gerhards klagt: „Klassische Kommunikationswege funktionieren nicht mehr digital“ und fragt: „Wer soll´s anders organisieren?“ Auf der Baustelle habe früher der Geldgeber bestimmt. „Heute bin ich das Bindeglied zwischen meinen Lieferanten und den Kunden.“

Im Home-Office kann ich beim Abwaschen meine Gedanken sortieren

Dann endlich führte der Moderator die Frage eines Online-Teilnehmers am TELI-Jour fixe in die Diskussion ein. Sie bezog sich auf die Diskussion um die Vielzahl an Tools und Kommunikationswegen:

Wenn in der Digitalisierung, der Vernetzung und dem Home-Office die Zukunft der Arbeit liege, solle dann die Online-Kommunikation ein profitfrei allen Menschen bereit gestelltes Netzgut werden, im Sinne der kostenlosen Freigabe des Portable Document Format (PDF) für einen plattformübergreifenden und Prozesse vereinfachenden Austausch von Dokumenten?

Rieger Espíndola sah darin einen spannenden Ansatz, meinte aber, dass das in Ermangelung von Profit für die Firmen, die Tools entwickelten und verkauften, nicht geschehen würde. Die Vielzahl der Tools werde sich zwar auf ein paar wenige reduzieren. Aber: „Kompatibilität wird es nicht überall geben!“ Und: „Was bei PDF klappt, nämlich Text-, Bild-, Video- und Audio-Informationen in einem austauschbaren Dokument zu vereinen, klappt bei der Kommunikation nicht.“

Gerhardts widersprach: „Vereinheitlichung ist eine Grundforderung!“

Böhle fordert ferner: „Die Nutzeroberfläche muss standardisiert und durch sinnliche Erfahrung selbsterklärend werden.“

Hobbach: „Wir hängen zwischen Baum und Borke: Selbsterklärend ist wenig.“

Dann wandte sich die Diskussion wieder der Bezahlung der Arbeitszeit in der künftigen Arbeitswelt zu. Böhle befürchtet eine Auflösung der Grenzen für den Output, weil nicht mehr klar definiert sei, wann etwas „fertig“ sei. Rieger Espíndola forderte einen Forecast und will „Dinge, die ich nicht beeinflussen kann, verunmöglichen“. Gerhardts konstatierte, dass im Handwerk die Entlohnung nach Zeitaufwand selten geworden sei und weiter: „Die Frage ist unterm Strich, für eine Arbeit eine Bezahlung zu finden.“ Hobbach begnügt sich mit dem schon Erreichten: „Wenn es im Home-Office nicht klappen würde, dann gäbe es das nicht mehr, dann hätten wir bereits andere Wege gefunden.“ Und sie fährt fort: „Im Home-Office kann ich beim Abwaschen meine Gedanken sortieren. Am Ende zählt nur der Nutzen.“

Die neue Arbeitswelt bietet Chancen und Risiken

Diese Diskussion fasste Moderator Peter Knoll wie folgt zusammen: Die neue Arbeitswelt bietet Chancen und Risiken. Es gibt viele, die Home-Office zu schätzen wissen. Der Trend geht zu mehr Home-Office, zwei bis drei Tage physischer Präsenz am Firmen-Arbeitsplatz pro Woche aber bleiben wichtig. Unter den Diskussionsteilnehmern gibt es überraschend viele Übereinstimmungen. Das Tagwerk muss mit einem befriedigenden Gefühl beendet werden.

Mit einer Referentin und drei Referenten, insgesamt acht Mitwirkenden und fast 60 aktiven Teilnehmern erwies sich das TELI-Webinar-Format als geeignet, in Pandemie-Zeiten, in denen Präsenz-Veranstaltungen nicht opportun sind, selbst komplexe Zukunftsthemen ausführlich zu diskutieren und, ganz dem Vereinszweck des TELI e. V. folgend, den Dialog über Wissenschaft und Technik sowie deren Auswirkungen auf allen Gebieten in Medien und Öffentlichkeit zu fördern. Früher belebten mithin lästige Zwischenrufe aus dem Auditorium oftmals die Auftritte der Vortragenden; heute hat der Meeting-Moderator die maschinelle Macht, sie stumm zu schalten.

Präsentation

Präsentation von Irene Hobbach 2021_Zukunft_der_Arbeit_Irene Hobbach

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