Buchbesprechung: Hinter deinem Schatten von Michelle Müller-Nagy

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Buchcover Hinter Deinem Schatten

Sucht-Probleme begegnen uns sehr viel häufiger, als uns lieb ist. Die meisten von uns denken spontan an Alkoholabhängige, die mit der Pulle in der Hand an Bahnhöfen herumtorkeln, oder an Menschen, die mit der Spritze im Arm mehr tot als lebendig im Bett liegen. Ein Blick auf die Zahlen macht Angst: 1,6 Millionen Menschen sind in Deutschland alkoholabhängig, 600.000 pflegen einen problematischen Konsum von Cannabis oder anderen Drogen, 1,8 Millionen sind medikamentenabhängig und 1,3 Millionen sind pathologisch glücksspielsüchtig. Diese Zahlen nennt das Datenportal des Bundesdrogenbeauftragten:
https://datenportal.bundesdrogenbeauftragter.de.
Neben den Süchten, hervorgerufen durch„stoffbezogene Drogen“ gibt es weitere Suchterkrankungen, die den Wenigsten von uns wirklich bewusst sein dürften. Das Buch „Hinter deinem Schatten“ will das ändern. In ihrer Autobiografie beschreibt Michelle Müller-Nagy sehr plastisch, wie sie infolge emotionaler Abhängigkeit – eine der vielleicht am stärksten unterschätzten Suchtformen – immer tiefer in diverse andere Süchte hineingeraten ist: Alkohol, andere Drogen, Sex…
Kein leichtes Buch, hat ja nicht viel ausgelassen, die junge Frau. Sie hatte sich schon sehr früh immer wieder selbst verletzt und, kaum volljährig, einen Sohn bekommen. Doch sie hat es ihm zuliebe geschafft, zeitweilig auf Alkohol und andere Suchtmittel zu verzichten, eine Leistung, der Respekt gebührt. Umso schwerer fällt es, dem weiteren Lebensweg von Michelle Müller-Nagy zu folgen, den sie in ihrem Erstlingswerk detailreich beschreibt, intime Erlebnisse inklusive – wie sie erneut und noch tiefer dem Alkohol und anderem Zeug verfällt. Es schmerzt, zu lesen, wie sie sich immer mehr mit Menschen umgibt, die ihr letztlich schaden, bis sie schließlich an einen Neonazi gerät. Hier endet der erste Teil mit einem Cliffhanger, der Lust auf den 2. Teil macht, der Februar 2025 erscheinen soll. Ich bin schon sehr gespannt darauf, zumal ihr Leben später eine glückliche Wendung nehmen wird.

Als ehemaligem Geschäftsführer einer Suchthilfe-Einrichtung war mir bereits bewusst, dass bei den meisten Abhängigen viele Faktoren zusammentreffen, und dass in vielen Bereichen, nicht zuletzt leider auch in sozialen Berufen, immer wieder Menschen tätig sind, die dort nichts verloren haben. Das Buch von Müller-Nagy beschreibt diesen Umstand ebenfalls. Es rüttelt an der menschlichen Gleichgültigkeit, mit der sie sogar von professioneller Seite konfrontiert war. Die Lektüre fällt nicht leicht, ist aber wichtig, denn Müller-Nagy mahnt uns alle dringend an unsere Pflicht, genau hinzuschauen. Denn „Wegschauen“ bei Freunden, Freundinnen, Verwandten, Kolleginnen oder Kollegen, die möglicherweise oder ganz sicher Probleme mit Alkohol oder anderen Drogen haben, mag gut gemeint sein – doch das wäre die schlechteste Variante.

Wir sollten handeln, nicht wegschauen. „Hinter deinem Schatten“ erinnert eindringlich und oft schmerzlich daran, ein unbedingt gut geschriebenes und lesenswertes Buch einer Autorin, von der noch viel zu erwarten ist. Sie steht erst am Anfang einer großen Karriere als Schriftstellerin und könnte eines Tages sogar eine überragende Therapeutin werden.

Details:
Hinter deinem Schatten

pinguletta Verlag
Taschenbuch
357 Seiten
Preis: 18 Euro
ISBN: 978-3-948063-53-5